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T. C. Boyle: „Good Home“, Stories, aus dem Englischen von Anette Grube und Dirk van Gunsteren, Hanser-Verlag, München, 432 Seiten

T.C. Boyle: Good Home

Rezension von Günter Kaindlstorfer
Bayerischer Rundfunk, Diwan, Juli 2018


Alle Achtung, dieser Mann kann schreiben. In seinem jüngsten Erzählband präsentiert sich T.C. Boyle einmal mehr in bestechender Form, was Sprachkraft, Tempo, Erzählfreude, Witz und narrativen Drive betrifft. Zwanzig Short Stories umfasst „Good home“, und keine einzige dieser Geschichten ist schlecht oder auch nur mittelmäßig, alle Texte glänzen und funkeln und bieten erhellende, verblüffende, mitunter auch bizarre Einblicke in die Beschwernisse, Ekstasen und alltäglichen Kümmernisse der menschlichen Existenz.
Da ist zum Beispiel Gordon, der Held der Erzählung „La Conchita“. Gordon ist als Kurierfahrer Tag für Tag auf kalifornischen Highways unterwegs. Eigentlich ein sympathischer Mensch. Zugleich aber brodelt in ihm der unterdrückte Groll des „Ordinary Man“, dem die automobilistischen Dilettanten auf den Fernstraßen Amerikas unendlich auf die Nerven gehen. Aus diesem Grund hat Gordon in einem Geheimfach der Fahrertür eine 9mm-Glock-Pistole versteckt – und manchmal, wenn ihm rücksichtslose „Honda“-Lenker oder von ihren Handies chronisch abgelenkte Verkehrsrüpel allzu sehr auf den Wecker gehen, setzt er sein Schusswaffe ein.

ZITAT:

„Ich hab’s gesehen: Die Leute sehen beim Autofahren fern, sie essen Kung Pao aus der Schachtel, sie lösen Kreuzworträtsel und telefonieren mit zwei Handys gleichzeitig – und das alles bei Tempo hundertzwanzig. Jedenfalls, ich hab bloß zweimal gefeuert: peng, peng. Hab kaum gemerkt, dass ich abgedrückt hab. Außerdem hab ich natürlich tief gehalten – ich wollte ihm Löcher in seine Türschweller schießen oder die idiotischen, scheißgroßkotzigen Super-Avenger-Geländereifen erwischen, auf denen er ungefähr vier Meter über der Straße thronte. Ich bin nicht stolz drauf.“

Eines Nachmittags, Gordon hat gerade eine eisgekühlte Transplantationsleber vom Flughafen abgeholt, gerät er mit seinem Wagen in eine Naturkatastrophe: In der Nähe der Ortschaft „La Conchita“ ist gerade ein verheerender Erdrutsch abgegangen und hat hunderte Menschen verschüttet. Wutbürger Gordon lässt alles stehen und liegen und bewährt sich bei den Ausgrabungsarbeiten als Held und selbstloser Lebensretter, der einen Familienvater und dessen kleine Tochter eigenhändig aus dem Schlamm buddelt. So nah liegen aggressives Ressentiment und rührender Altruismus beisammen, zumindest im Falle Gordons.
In „Good Home“ führt T.C. Boyle seine Figuren verlässlich in kleine oder größere  Untergänge und Katastrophen. Da gibt es zum Beispiel eine einsame Kalifornierin von Mitte dreißig, die sich während einer Botox-Kur so unrettbar in ihren Schönheits-Chirurgen verliebt, dass sie sich vor ihm auf peinliche Weise erniedrigt. Da gibt es aber auch den Elternabend an einer x-beliebigen High-School, auf dem sich evangelikale Fundamentalisten und Befürworter der Evolutionstheorie in bürgerkriegsartiger Unversöhnlichkeit in die Haare kriegen. Ein besonderes Kabinettstück ist die Geschichte von Gerard, dem verwildernden Witwer, der sich nach dem Tod seiner Frau so scheußlich einsam fühlt, dass er sich eine Python als Hausgesellschafterin zulegt. Das Problem: Gerard muss die Jungschlange mit Ratten füttern, lebenden Ratten. Der Mann fährt also ins nächstgelegene Tierfachgeschäft und besorgt ein paar Futtertiere. Zu Hause setzt er einen der Nager ins Plexiglas-Terrarium:

ZITAT:
„Die Ratte – sie war weiß und hatte rote Augen wie die Laborratten, die er als Student in den Käfigen im Biologiegebäude gesehen hatte – glitt aus der Schachtel wie ein Stück Knorpel, setzte sich hin und begann sich zu putzen, als wäre es das Normalste von der Welt...
Lange passierte gar nichts. Schneeflocken tickten an die Fenster, das Feuer knisterte und brannte herunter. Und dann bewegte sich die Schlange, ... und sofort erstarrte die Ratte... Wie eine zum Leben erwachte Skulptur hob der Python den Kopf vom Plexiglasboden und drehte ihn seinem Opfer zu. Dann stieß er zu, so schnell, dass Gerard es um ein Haar gar nicht gesehen hätte.“

Jetzt hat Gerard ein Problem: Die Futtertiere, die er dem Heimreptil zum Fraß vorwerfen möchte, tun ihm leid, und zwar einem Ausmaß leid, dass er schlussendlich 1300 Ratten Obdach gewährt. Gerards Ende in seinem heruntergekommenen Eigenheim, so viel sei verraten, ist schrecklich.
Es sind in der Regel keine gewinnenden oder übermäßig sympathischen Menschen, mit denen T.C. Boyle seine Geschichten bevölkert. Und dennoch: Boyles Figuren wachsen einem ans Herz bei der Lektüre. Mag ihr Alltag auch schäbig, chaotisch oder ganz und gar durchschnittlich sein – sie haben etwas, das die Empathieneuronen des Lesers unwiderstehlich zum Schwingen bringt. T. C. Boyles Geschichten haben gerade da etwas Menschenfreundliches, wo seine Protagonistinnen und Protagonisten Schiffbruch erleiden oder ihren ganz persönlichen kleinen Untergang erleben. Und: dass man sich bei der Lektüre glänzend unterhält, muss auch kein Nachteil sein.

T. C. Boyle: „Good Home“, Stories, aus dem Englischen von Anette Grube und Dirk van Gunsteren, Hanser-Verlag, München, 432 Seiten


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