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Steve Sem-Sandberg: „Die Erwählten“, Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 524 Seiten

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten

Rezension von Günter Kaindlstorfer

Ja, es gab sie: Kinder und Jugendliche, die die von NS-Medizinern eingerichtete Hölle am idyllischen Stadtrand Wiens überlebt haben. Da, wo die westlichen Ausläufer der Donaumetropole in den sanfthügeligen Wienerwald übergehen, befindet sich die psychiatrische Klinik Steinhof, ein von Otto Wagner konzipierter Jugendstilkomplex, in dem die Nationalsozialisten ab 1940 nicht nur behinderte, sondern auch „schwer erziehbare“ Kinder und Jugendliche interniert haben.
Adrian Ziegler, so heißt der fiktive Protagonist Steve Sem-Sandbergs, ein elfjähriger Fürsorgezögling, dessen Schicksal eng an das des realen NS-Fürsorgeopfers Friedrich Zawrel angelehnt ist. Adrian Ziegler, aus halbverwahrlosten Verhältnissen stammend, wird im Jänner 1941 in die Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ in Wien-Steinhof eingeliefert. Anhand seines Schicksals zeigt Sem-Sandberg, was hunderten und tausenden Kindern zwischen 1940 und 1945 am „Spiegelgrund“ widerfahren ist: Sie wurden systematisch gedemütigt, gequält und gefoltert, mindestens 789 Kinder und Jugendliche wurden im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms ermordet. Adrian Ziegler alias Friedrich Zawrel hatte Glück: er überlebte.
Bei aller Düsternis, die über diesem Roman liegt: Steve Sem-Sandberg legt Wert darauf, dass er – letztlich – ein optimistisches Buch geschrieben hat, ein Buch vom Überleben:

OT Steve Sem-Sandberg:
„I always say, when people ask me about this book, that the theme is so difficult and depressing and so on: I always say, it’s the opposite – it’s a book about survival.“

Wie in früheren Büchern arbeitet Steve Sem-Sandberg auch in diesem mit einer sorgsam austarierten Mischung aus Dokumentarischem und Fiktivem: Die Namen der NS-Opfer sind fiktionalisiert, die Täter indes agieren auch im Roman mit Klarnamen: Dr. Jekelius, Dr. Illing, Dr. Heinrich Gross. Eine zentrale Rolle in Sem-Sandbergs Roman nimmt Anna Katschenka ein, frühere Sozialdemokratin und in der NS-Zeit stellvertretende Oberschwester am „Spiegelgrund“. Aus Ihrer Perspektive wird etwa eine Visite in der „Kinderfachabteilung“ geschildert:

ZITAT:
„Dr. Gross geht von einem Bett zum anderen, weist nach rechts und nach links, so als präsentiere er Museumsstücke. Sie versteht nur einen Bruchteil dessen, was er sagt. Idiotie, Morbus Little ... Epileptiker verwahren wir, wie Sie sehen, in Käfigen!“
Dies als Hinweis zu dem Mädchen im Gitterbett. Für Anna Katschenka haben die Kinder noch keine Namen oder Diagnosen. Sie sieht nur Körper: einige wie bereits ausgediente Anhängsel gigantischer Schädel daliegend, andere mit auffallend schön geformten Köpfen, bedeckt mit blondem Säuglingshaar und einem filigranen Netz blassblauer Adern über Schädelknochen und Schläfen... Und überall Schreie und Missklang; von heiseren Rufen bis zu eigentümlich gurgelnden oder muhenden Tönen oder dem dumpfen, brunstartigen Stöhnen, das ein kleiner Junge mit Gaumenspalte urplötzlich ausstößt, als Doktor Gross erklärend bei ihm Halt macht. Cheilognathopalatoschisis. Die Mutter ist Alkoholikerin und ließ das Kind im Stich, als sie bemerkte, wie es aussah. Kann man schon verstehen!“


OT Steve Sem-Sandberg:

„When confronted with that kind of material...
...in many ways.“

ÜBERSETZUNG:
„Viele Leute heute sagen, wenn sie über die Euthanasieprogramme der Nazis reden: O Gott, das war so schrecklich und monströs, man kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie Menschen zu so etwas fähig sein können. Aber wenn Sie die Uhren um ein paar Jahrzehnte zurückdrehen, in die 1930er, dann stellt sich das Bild ganz anders dar. Dann sehen Sie zum Beispiel, dass Schweden und Österreich, oder sagen wir besser Schweden und Wien zu dieser Zeit ganz ähnliche Entwicklungen durchgemacht haben. In Schweden wie in Wien gab es eine mächtige Sozialdemokratie, in Schweden wie in Wien hat man ehrgeizige Sozialfürsorge- und Wohlfahrtssysteme aufgebaut, da gab es große Ähnlichkeiten. Und auch das erbbiologische Denken war auf der Rechten wie der Linken weitverbreitet. Erbbiologisches Denken war nichts, was den Leuten damals eigenartig vorgekommen wäre.“

Viele Ärzte und Pflegerinnen glaubten tatsächlich, im Dienste der „Volksgesundheit“ zu handeln, wenn Sie „lebensunwertes Leben“ ausmerzten. Es gab auch andere Rationalisierungen für das mörderische Tun, wie Steve Sem-Sandberg erläutert: Man erlöste die „armen Hascherln“ in ihren Gitterbetten doch bloß von unnötigem Schmerz...

OT Steve Sem-Sandberg:
„You help to ease the pain. And is’nt it the purpose of all medicine? To help people? There is always a rationalization for it.”

Sem-Sandberg arbeitet in seinem Roman eine altbekannte Entlastungsstrategie heraus: die Schuldumkehr. Auch wenn Euthanasieschwestern wie Anna Katschenka nach dem Krieg eine gewisse Schuldeinsicht zeigten – die Todesschwester wurde 1948 zu acht Jahren schwerem Zuchthaus verurteilt – sie fühlten sich dennoch in erster Linie: als Opfer. Steve Sem-Sandberg versetzt sich in die Psyche einer solchen Täterin:

OT Steve Sem-Sandberg:
„The real victim is me, because I have to do this dirty work. Look at me: I am a nurse, I wanted to have a normal life, and look, what has happened to me: I have to deal with these awful children. So, you are always yourself the victim, and if you are the victim, you always rationalize and think, that what you do is for a common good.”

ÜBERSETZUNG:
“ICH bin das wahre Opfer. ICH muss diese schmutzige Arbeit machen. Ich bin eine nette, fürsorgliche Krankenschwester, ich will doch bloß ein ganz normales Leben führen. Und was ist mein Job? Ich muss mich mit diesen schrecklichen Kindern abgeben... Wissen Sie, diese Leute sehen sich immer selbst als Opfer, und sie greifen immer wieder zu den selben Rationalisierungen, indem sie sich sagen: Was ich tue und tun muss, tue ich für das Gemeinwohl.”

Als treuen Diener des Gemeinwohls sah sich zweifelsfrei auch Heinrich Gross, Psychiater am „Spiegelgrund” und an zahlreichen Euthanasiemorden beteiligt. Nach dem Krieg konnte Gross seine ärztliche Karriere ungebrochen fortsetzen. 1953 trat er der SPÖ bei, die „Gehirnsammlung”, die er während der NS-Zeit angelegt hatte, leistete dem Todesarzt vom „Spiegelgrund” im Laufe seiner wissenschaftlichen Nachkriegskarriere unschätzbare Dienste. Heinrich Gross wurde zum meistbeauftragten Gerichtspsychiater Österreichs und zu einem der prominentesten Nervenärzte und „Gehirnforscher“ der Zweiten Republik. Bis er 1975 vor Gericht seinem einstigen “Spiegelgrund”-Opfer Friedrich Zawrel als Gutachter gegenüberstand: der Anfang vom Ende seiner Karriere...

OT Steve Sem-Sandberg:

„One of the things, many writers do...
... that makes him that way.“

ÜBERSETZUNG:
„Viele Autoren, die über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg schreiben, dämonisieren das Böse. Sie würden einen Mann wie Dr. Gross als das „Böse in Menschengestalt“ beschreiben, als einen „Teufel im weißen Mantel“. Meiner Ansicht nach ist das der total falsche Zugang. Was sieht man, wenn man sich Dr. Gross ansieht? Man sieht einen Opportunisten, der sich stets im Mainstream seiner Zeit bewegt, ob das der Mainstream der NS-Zeit oder der Nachkriegszeit ist, man sieht einen Opportunisten, der sich umsichtig und gewissenhaft um seine Karriere kümmert. Es ist diese trostlose Durchschnittlichkeit, die ihn böse macht, nicht so sehr seine Ideologie und seine Geisteshaltung.“

Steve Sem-Sandbergs beeindruckender Roman ist ein Bericht aus dem innersten Kreis der Hölle, ein beklemmender Report über die ebenso grausame wie kalte Mechanik einer „totalen Institution“. Die Arbeit an seiner Monumentalerzählung habe ihn mitgenommen, bekennt der Autor: Er fühle sich erschöpft und müde, schließlich habe er sich sieben Jahre lang der düsteren Thematik des Buches ausgesetzt, Tag für Tag, auch zu Ostern, zu Weihnachten und am Neujahrstag.

OT Steve Sem-Sandberg:

„Well it took...
... and every day.”

Wer sich sein Weltbild aus der Lektüre skandinavischer Thriller und US-amerikanischer Gewalt-Reißer zusammenbastelt, kann leicht den Eindruck bekommen, das Böse komme immer und ausschließlich in Gestalt genialischer Psychopathen in die Welt. Wer Steve Sem-Sandbergs Roman gelesen hat, weiß: Das stimmt nur in Ausnahmefällen. Es sind politische Massenpsychosen, vor denen man sich wirklich fürchten muss – und Gestalten wie der biedere Dr. Gross.

OT Steve Sem-Sandberg:
„If you really want to understand, how evil works, you have to see not the banality, but the normality of evil.“

Er habe einen Roman nicht über die Banalität, sondern die “Normalität des Bösen” geschrieben, erklärt Steve Sem-Sandberg. Der schwedische Romancier schildert das unerhörte Geschehen auf dem „Spiegelgrund“ in multiperspektivischer Plastizität, die einem während der Lektüre immer wieder das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ein dichter und verstörender Roman über die Abgründigkeit des Menschen.

Steve Sem-Sandberg: „Die Erwählten“, Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 524 Seiten


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