Suche:
zurück zur Übersicht
Thomas Pynchon: „Bleeding Edge“, Roman, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt-Verlag, Reinbek, 604 Seiten

Thomas Pynchon: Bleeding Edge

Rezension von Günter Kaindlstorfer
ORF, Ex Libris, Oktober 2014


Alles beginnt ganz normal: Auf den ersten Seiten seines neuen Romans schickt Thomas Pynchon, der Mister Mysterious der US-amerikanischen Gegenwarts-Literatur, seine Heldin Maxine Tarnow mit ihren beiden Jungs zur Schule. Maxine eine clevere, gut geerdete Mittelschichts-Mum aus der Upper West Side New Yorks, ist Inhaberin einer Betrugsermittlungsagentur. „Ertappt – Geschnappt“ heißt der Laden. Wir schreiben das Frühjahr 2001, die Dotcom-Blase ist gerade geplatzt, und vor der Otto-Kugelblitz-Grundschule – sie ist nach einem fiktiven Schüler Sigmund Freuds benannt – herrscht das übliche Morgenchaos.

ZITAT:
„Wie immer wimmelt es auf dem überbreiten Vorplatz auch heute von Schülern und zum Dompteurdienst eingeteilten Lehrern, von Eltern und Kindermädchen und jüngeren Geschwistern in Kinderwagen... „Maxi, hi.“ Vyrva McElmo gleitet durch das Gewusel und braucht dafür viel länger als nötig – ein West-Coast-Ding, wie es Maxine scheint. Vyrva ist ein Schatz, aber nicht annähernd zeitorientiert genug – sie kommt mit Sachen durch, für die man andere Frauen längst den Upper-West-Side-Mom-Ausweis entzogen hätte.“

Damit ist der Ton angeschlagen, der sich 600 Seiten lang durch Thomas Pynchons Roman zieht: der muntere Tonfall amerikanischen Alltagsgelabers. Pynchons Simulationsfähigkeit ist beeindruckend, er trifft den Small-Talk-Sound der Ostküste perfekt – und Dirk van Gunsteren hat ihn exzellent ins Deutsche übertragen –, aber auf der literarischen Langstrecke, ehrlich, wirkt der fidele Palaver doch ziemlich ermüdend.
Die Sache wird nicht besser dadurch, dass Pynchon im Turbotempo eine Nebenfigur nach der anderen aus dem Hut zaubert. Eigentlich kümmert sich seine Protagonistin Maxine ja um Wirtschaftsbetrug in kleinerem Stil – Inventartricksereien, getürkte Bilanzen, solche Sachen. Im Verlauf der Handlung bekommt sie’s allerdings mit größeren Fischen zu tun – mit einem zwielichtigen Dotkom-Milliardär namens Gabriel Ice zum Beispiel, aber auch mit anderen seltsamen Typen: einem korrupten CIA-Ermittler namens Nicholas Windust, dem Hacker-Virtuosen Eric Outfield und dem Netz-Pionier Lester Traipse, der eines schönen Tages mit einer Messerklinge im Kopf tot aufgefunden wird.
Das alles ist natürlich streng ironisch angelegt – ein postmodernes Krimi-Verwirrspiel, von Pynchon absichtsvoll in Unentwirrbare hinein gesteigert. Hochkultur und Slapstick, Realität und Fiktion, Verschwörungstheorien und schnöde Alltagswirklichkeit gehen auch in diesem Pynchon-Roman unauflöslich ineinander über. Wirklich befriedigend ist das – bei aller Virtuosität der Ausführung – nicht.
Die Ereignisse des 11. September 2001, wir befinden uns auf Romanseite 400, beschreibt Pynchon eher beiläufig:

ZITAT:
„Am Dienstagmorgen gehen sie alle zusammen zur Kugelblitz-Schule und stehen vor dem Eingang herum, bis die Schulglocke läutet. Vyrva nimmt einen Crosstownbus, und Maxine geht in Richtung Büro, will in einem Zigarettengeschäftr eine Zeitung kaufen und bemerkt, dass alle aufgeregt und zugleich niedergedrückt wirken. Downtown ist irgendwas Schlimmes passiert: „Gerade ist ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht“, sagt der Inder hinter der Theke.
„Was, ein Sportflugzeug?“
„Eine Passagiermaschine.“
O-oh. Maxine geht nach Hause und schaltet CNN ein. Und da sieht sie es. Aus schlimm wird schlimmer. Den ganzen Tag lang. Gegen Mittag ruft die Schule an: Sie schließen für den Rest des Tages – könnten Sie bitte kommen und Ihre Kinder abholen?“

Für Verschwörungstheeorien aller Art – die große amerikanische Passion – hat Thomas Pynchon sich immer schon interessiert. Seine Heldin Maxine wird am Abend des 11. September damit konfrontiert:

ZITAT:
„Maxines Telefon läutet. Es ist March Kelleher.
„Das ist der Reichstagsbrand’, begrüßt sie Maxine.
„Der was?“
„Diese verdammten Nazis in Washington brauchten einen Vorwand für einen Staatsstreich, und den haben sie jetzt. Mit dem Land geht’s den Bach runter, aber wir sollten uns nicht vor den Kameltreibern in Acht nehmen, sondern vor Bush und seiner Bande“
Maxine ist sich da nicht so sicher. „Es sieht aber so aus, als würden die allesamt nicht wissen, was sie tun sollen, die sind total überrascht, es ist eher wie Pearl Harbour.“
„Das sollen wir glauben“, sagt March. „Und wer sagt überhaupt, dass Pearl Harbour geplant war?“
Führen Sie tatsächlich diese Diskusssion? „Lassen wir mal beiseite, dass das ein Schlag gegen das eigene Volk wäre“, sagt Maxine, „aber wer würde seiner eigenen Wirtschaft so etwas antun?“
„Man muss Geld ausgeben, um mehr Geld zu kriegen – schon mal gehört? Die dunklen Götter des Kapitalismus fordern ihren Zehnten.“

Offenbar ist es Thomas Pynchon noch einmal um eine Art Epochen-Panorama gegangen: das Ende des Dotcom-Booms und der Aufstieg des Islamismus, Globalisierung, Liberalisierung und Digitalisierung, der ganze „fucking late capitalism“ – das alles, scheint’s, wollte „Mister Mysterious“ noch einmal in einer wuchtig-ironischen Zusammenschau auf den Begriff bringen. Leider ist ihm das nur unvollständig gelungen. Weil: zu geschwätzig.

Thomas Pynchon: „Bleeding Edge“, Roman, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt-Verlag, Reinbek, 604 Seiten


zurück nach oben