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Andreas Maier: „Der Kreis“, Roman, Suhrkamp-Verlag, Berlin, 148 Seiten

Andreas Maier: Der Kreis

Rezension von Günter Kaindlstorfer
Deutschlandfunk, Januar 2017


Es ist ein ambitioniertes Projekt, das Andreas Maier da in Angriff genommen hat: ein volles, pralles Menschenleben – sein eigenes – romanhaft zu dekonstruieren, und zwar anhand einer Reihe von Themen, die für ein Menschenleben bedeutsam sind. Standen in früheren Werken Sujets wie „Kindheit“, „Wohnen“ und „Sex“ im Mittelpunkt, geht es im aktuellen Band des Zyklus um das Thema „Kunst“. Welche Bedeutung haben Literatur und Philosophie, Theater und Musik für das Leben eines Menschen? Wie eignet man sich ästhetisches Differenzierungsvermögen an? Kunst und „gesteigertes Lebensgefühl“ – hängt das irgendwie zusammen? Diese Fragen reflektiert der Roman auf spielerische und unerhört leichtfüßige Art und Weise.
Im Mittelpunkt des jüngsten Maier-Romans steht einmal mehr der Knabe Andy, Andreas Maiers Alter Ego aus den 70er und 80er-Jahren. Andy wächst als Sohn einer Anwaltsfamilie im Städtchen Friedberg in Hessen auf. „Grundschule“, „Unterstufe“, „Mittelstufe“ und „Oberstufe“ – in diese vier Kapitel ist der Roman unterteilt. Jedem Abschnitt ist eine andere Form des Umgangs mit Kunst und Kultur zugeordnet. Wesentlichen Einfluss auf Andys kulturelle Sozialisation übt seine Mutter aus – eine bürgerliche Bildungsschwärmerin, die sich, von ihrem Jüngsten ehrfürchtig beobachtet, immer wieder ins sogenannte Bücherzimmer des Familienhauses zurückzieht, um dort ihren „Studien“ zu frönen.
 
ZITAT:
„Die Wände waren mit weißer Rauhfasertapete tapeziert und das Fenster durch eine Sichtschutzgardine verhängt.“

Ein sakraler Raum. Die Mutter darf dort nicht gestört werden. Manchmal, wenn er allein zu Hause ist, schleicht sich Andy dennoch ins Bücherzimmer und versucht, dem Mysterium der mütterlichen Studien auf die Spur zu kommen. Er zieht ein gewichtiges Buch aus dem Regal. Der Name des Autors sagt ihm nichts: Teilhard de Chárdin.

ZITAT:
„Der Name war ungewöhnlich, ja, mysteriös. Erst nach Jahren sollte ich verstehen, dass ich den Namen oft aus dem Mund meiner Mutter gehört hatte, aber sie hatte ihn immer ,Theo Düschadéng’ ausgesprochen... Theo Düschadéng entzog sich jeder Einordnung. Er war sicherlich die rätselhafteste Figur im ganzen Bücherzimmer. “

Die Mutter verharrt – nicht nur Theo Düschadéng, sondern der Welt des „Geistigen“ insgesamt gegenüber – im Aggregatzustand der Anbetung. Es dauert bis zu seinem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr, bis Andreas, der Romansohn, erkennt, dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst nichts mit anbetendem Romantizismus und viel mit harter Arbeit zu tun hat.

OT Andreas Maier:
„Ich denke, dass der Roman tatsächlich davon handelt, dass man von diesem Sehnsuchtskomplex – dem Anhimmeln von Kunst – wegkommen muss, wenn man künstlerisch tätig sein will.“

Andreas Maiers Romanmutter ist eine Anhimmlerin wie nur je eine. Ihr höchstes, unerreichbares Ziel: den großen Geistern dieser Welt auf Augenhöhe zu begegnen.

ZITAT:
„Wenn von Theo Düschadeng die Rede war, sagte sie etwa: Geist ist Materie. Oder sie sagte: Der Kosmos ist Geist. Ich versuchte mir dann immer so etwas wie Materie oder Geist vorzustellen, oder den Kosmos... Theo Düschadeng war für meine Mutter eine Art von Held. Er hatte Großes geleistet: Geist ist Materie. Nun saß sie oben im Morgenrock in ihrem Zimmer und las und exzerpierte, um, ähnlich einem Alchemisten bei der Umwandlung von Blech in Gold, die Identität von Geist und Kosmos zu beweisen oder sie näher zu verstehen, sie zu durchleuchten oder zu durchdringen.“

Andreas Maiers Romanmutter beschäftigt sich nicht nur mit „Geistigem“, wie sie es nennt, sie tritt auch in Korrespondenz mit Schriftstellern und Gelehrten, zum Beispiel mit dem Schriftsteller Fritz Usinger, Büchnerpreisträger des Jahres 1946, ebenfalls in Friedberg in der Wetterau wohnhaft. Jedesmal, wenn die Mutter Post von Usinger oder einem anderen Büchermenschen erhält, wirkt sie wie verwandelt: Ein Hauch von erotischer Erregung scheint die Anwaltsgattin dann zu umwehen.

ZITAT:
„Usinger war ganz früh ein Begriff für mich. Usinger hatte auch mit Geist und Kosmos zu tun... Usinger musste meine eigenen Lehrer und den ganzen Schulstoff, mit dem ich als Grundschüler täglich umgeben war, nicht nur bei weitem übertreffen, er gehörte vielmehr zu einer ganz anderen Kategorie, einer viel größeren und wahreren Kategorie. Der Geist-Kosmos-Materie-Kategorie, die in meiner Grundschule gar nicht existierte.“

Im zweiten Kapitel des Romans – „Unterstufe“ – lernt Maiers Romanheld Andy die Ekstasen MUSIKALISCHEN Genusses kennen. Geist-Kosmos-Materie, die Unio Mystica, der seine Sehnsucht gilt, glaubt er jetzt nicht mehr in den Büchern seiner Mutter zu finden, sondern in den LPs von „Black Sabbath“ und „Led Zeppelin“:

ZITAT:
„Als ich zwölf Jahre alt war, lag ich jeden Nachmittag auf meinem Bett und hörte Platten. Diese Stunden waren ein neues Versenkungsritual und hatten etwas Purgatorisches. Ich verschwand, wie vormals im Bücherzimmer meiner Mutter, aus dem Tag und der Zeit und wurde zu einer solipsistischen Existenz auf meinem Bett... Das Wesen, das ich lange Zeit im Bücherzimmer meiner Mutter vermutet hatte, jenes Wahrheits- und Eigentlichkeitswesen, schien jetzt jeden Tag zu mir zu kommen, wenn auch in anderer Gestalt als noch vor zwei, drei Jahren in der Bibliothek, nämlich als Rock- und Popmusik.“

Sich in kulturelle Verzückungszustände hineinzusteigern, ist ein Privileg juvenilen Gefühlsüberschwangs. Für Andreas Maier beruht diese Praxis aber auf einem letztlich naiven Umgang mit kulturellen Hervorbringungen.

OT Andreas Maier:
„Bei mir war relativ früh klar, dass ich selbst Kunst machen wollte. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, in welcher Form das dann sein sollte. Aber ich wusste schon früh, dass mein Leben das nicht hergibt, dass ich anderen hinterher renne und sie vergöttere.“

Im Kapitel „Mittelstufe“ beschreibt Andreas Maier, wie sein Roman-Alter-Ego in der Aula einer Friedberger Gesamtschule einer Schülertheater-Aufführung beiwohnt, die sein Verständnis von Kunst und Kultur vom Kopf auf die Füße stellen wird. Einer der Mitwirkenden damals ist der 19-jährige René Pollesch. Die Produktion, die Andreas im Gesamtschul-Foyer miterleben darf, wird für den Mittelstufen-Schüler zum Erweckungserlebnis. Er erkennt: Kunst kommt nicht von Können, sie hat nichts mit Genie zu tun – Kunst kommt von MACHEN. Man muss es einfach tun.

OT Andreas Maier:
„Thomas Mann sagt: Man muss erst ganz gestorben sein, um ein Dichter sein zu können. Wenn man das auf die Schriftstellerei überträgt, heißt das: Du kannst nie das schreiben, was du schreiben willst. Du musst das finden, was du schreiben kannst. Du gehst natürlich am Anfang in das Schreiben hinein, weil du dies und das willst. Du willst ja am Anfang tausende Sachen. Aber mit der Zeit wirst du immer kleiner, immer kleiner. Und dann findest du irgendetwas, was du kannst. Das musst du dann festhalten.“

In „Der Kreis“ erzählt Andreas Maier, wie er vom Schwärmer zum Macher wurde. Wie alle bisher erschienen Bände des Zyklus ist auch dieser süffig und amüsant zu lesen. Maier erzählt gewitzt und unterhaltsam, ohne nostalgisches Pathos und fernab aller 70er- und 80er-Jahre-Klischees. Kunst kommt eben doch – auch – von Können.

Das Buch:
Andreas Maier: „Der Kreis“, Roman, Suhrkamp-Verlag, Berlin, 148 Seiten.



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