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Gerhard Schulze: DIE BESTE ALLER WELTEN
Hanser Verlag (2003), ISBN: 3446202811

Gerhard Schulze: Die beste aller Welten

Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?
Rezension von Günter Kaindlstorfer


Immer weiter, immer höher, immer größer – das ist das schlichte und doch so wirkungsvolle Grundprinzip der Moderne. Seit Galilei das Meßbare maß und das Nicht-Meßbare meßbar zu machen trachtete, seit in den Städten Norditaliens und Süddeutschlands der neuzeitliche Kapitalismus entstand, seit dieser Zeit spielen wir alle ein Spiel, das Gerhard Schulze in einer einprägsamen Formulierung das "Steigerungsspiel" nennt. In feudalen und vor-feudalen Zeiten lebten und dachten die Menschen in zyklischen Zusammenhängen, die moderne Welt dagegen zeigt sich von der Idee der Grenzüberschreitung besessen. Ob der IT-Kapitalist sich neue Märkte in Südostasien erschließt oder die NASA nach Spuren von Leben auf dem Mars fahndet, ob Gentechniker den neuen Menschen modellieren oder Reinhold Messner den Nanga Parbat auf einem Bein hüpfend bezwingt – immer sind es Grenzen, die wir in manischem Eroberungszwang niederreißen, überwinden, überschreiten wollen. Für Gerhard Schulze ist der Hang zur Grenzüberschreitung ein charakteristischer Wesenszug der Moderne.

OT Schulze: "Die Grenze ist für uns immer das, was wir maximal gerade machen können, der Möglichkeitsraum. Das Denken setzt immer an dieser Grenze an. Der Wissenschafter, der Techniker, der Konsument... sie alle setzen an Grenzen an. Wir alle sind habituelle Grenzüberschreiter. Es handelt sich da um ein Phänomen, von dem man nicht sagen kann: Da und da ist es losgegangen... Es sind viele historische... in Phasen der Selbstorganisation herausbilden. Ganz wichtig ist das 18. Jahrhundert gewesen, denn da war schon die Entwicklung des Kapitalismus so weit fortgeschritten, dass es zur Ausbildung von Massenmärkten kam... Da trat zum ersten Mal ein Akteur auf, der immer wichtiger geworden ist: der Konsument... Letztlich geht es um das, was Menschen wollen... Schon im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit... Neugründung von Städten... Zünfte, dass eine Konkurrenz zwischen Kirche und Staat entstanden ist... Technische Durchbrüche... Dampfmaschine.... bis in die Klöster des Mittelalters... Das sind alles Fäden, die aus der Tiefe der Geschichte kommen und sich zu einem Strang verbinden, und an dem hangeln wir uns immer weiter in die Zukunft vor."

In seinem neuen Buch "Die beste aller Welten" vertritt Gerhard Schulze eine beachtenswerte These: Das Steigerungsspiel, das die westliche Kultur seit Jahrhunderten so erfolgreich spielt, stößt allmählich an seine Grenzen. Schneller als in 9,75 Sekunden kann ein Mensch hundert Meter vermutlich nicht laufen, 64 private Fernsehkanäle machen wohl nicht glücklicher als 32, eine Teetasse ist in sich perfekt, sie kann nicht weiter perfektioniert werden. Die Konsequenz: Das Steigerungsspiel geht Gerhard Schulze zufolge zwar weiter, wenn auch verlangsamt, es wird aber peu á peu ergänzt und vielleicht auch verdrängt von einem anderen Spiel.

OT Schulze: "Wir bewegen uns von einer mehrere 100 Jahre umfassenden Phase der Naturaneignung in eine ganz neue Phase der Kulturaneigung, wo es auf ganz andere Formen der Wahrnehmung ankommt."

Mehr ist nicht unbedingt besser. Und von technischer, ökonomischer, naturwissenschaftlicher Innovation erwartet sich heute kaum noch jemand das Glück auf Erden. Die Idee des permanenten Unterwegs-Seins – ein mythischer Grundtopos der Moderne – diese Idee wird Gerhard Schulze zufolge allmählich ihre kulturelle Hegemonie verlieren. Abgelöst wird sie von einer anderen Idee: der Idee der Ankunft. Das heißt: Wir sind nicht länger unterwegs, wir sind immer öfter auch schon da. Obwohl Gerhard Schulzte, der Bamberger Meistersoziologe, Prognosen gegenüber äußerst skeptisch ist, erwartet er vom 21. Jahrhundert doch einen grundlegenden Paradigmenwechsel, nein, falsch, er nennt es eine "Paradigmenverbindung". Das Steigerungsspiel wird zwar weitergehen, meint Schulze, zu machtvoll, zu verführerisch ist die ihm zugrundeliegende Logik, auf der anderen Seite aber wird die Idee der Ankunft, des Bereits-Angekommen-Seins an kollektiver Wirkungsmacht dazugewinnen. Das stellt nicht wenige Menschen vor Probleme: Einem Ziel entgegenzuarbeiten ist vergleichsweise einfach, das Ziel erreicht zu haben, ist oft teuflisch schwer, weil dieses Angekommensein Gefühle der Leere und Desorientierung mit sich bringt. Gerhard Schulze verwendet in seinem Buch einen sinnigen Vergleich: Der Übergang vom Steigerungsspiel zur "Kultur der Ankunft" sei wie der Übergang vom Hausbauen zum Wohnen.

OT Schulze: "Das find ich eine sehr aussagekräftige Metapher: vom Hausbauen zum Wohnen, weil das eine Erfahrung ist, die viele Leute gemacht haben... Das Hausbauen hat lang gedauert, man wusste, was das Ziel ist, das Ziel hat einem Orientierung gegeben... Deswegen finden viele die Zeit der gemeinsamen Konstruktion... Jetzt kommt aber irgendwann der Zeitpunkt, wo das Haus fertig ist. Dieser Zeitpunkt ist für viele Paare ein Zeitpunkt der Krise... Man hat sich das immer als Paradies vorgestellt... Es fallen objektive Ziele.... Man steht vor einer unstrukturierten Situation, in der man seine Ziele selber definieren muß, es geht um ästhetische und soziale Ziele. Wie verhalten wir uns, wenn wir nicht auf ein zu erarbeitendes Ziel.... , sondern wenn es darum geht, sich miteinander das Leben schön zu machen. Das ist eine ganz schwere Aufgabe."

Eines ist klar: Vier Radios im Haus machen nicht unbedingt glücklicher als drei. Der kulturelle Fokus wird sich im 21. Jahrhundert konsequenterweise nicht auf die Mehr-Produktion von Radios richten, sondern auf die Frage, was die Radios Spielen. Eine begrüßenswerte Entwicklung eigentlich. Gerhard Schulze erwartet einen gewaltigen Bedeutungszuwachs für Fragen der Kultur. Weg vom Kaufen, hin zum Sein. Die gierigen Konsumenten, die lange geschichtliche Perioden der Armut und des Mangels in ekstatischen Kaufräuschen quasi kompensieren mußten, diese Konsumenten wird es natürlich auch in Zukunft geben. Daneben wird aber immer mehr ein Menschentyp an Terrain gewinnen, der sein Heil nicht unbedingt in einem Mehr an Konsum, an Steigerungwissen und an materieller Grenzüberschreitung .sucht, sondern in daseinsfroher Bescheidung, in menschlicher Begegnung, in vitaler Ausschöpfung der bestehenden Möglichkeiten.

Frage an Gerhard Schulze: Werden altmodische Tugenden wie Bescheidenheit und Askese ein unverhofftes Comeback erleben?

OT Schulze: "Bescheidenheit und Askese scheinen mir zu große Begriffe... Ein Sozialhilfeempfänger von heute hat ein Einkommen, das eine durchschnittliche Arbeitnehmerfamilie mit vier Köpfen 1960 hatte... Das muß man sich mal vorstellen... dann relativiert sich die Klage... Daß es nicht mehr im selben Tempo weitergeht wie wir das in einigen besonderen Jahrzehnten gewohnt waren... Das kann unmöglich so weitergehen... Wir befinden uns auf einem hohen Niveau, auf dem es langsamer weitergeht. Es handelt sich hier nicht um eine Aufforderung zur Bescheidenheit und Askese.... hohen Niveau auch einrichtet."

Gerhard Schulzes neues Buch ist durchaus zwiespältig aufgenommen worden. Die "Süddeutsche Zeitung" und "Die Zeit" reagierten begeistert, die "Frankfurter Rundschau" und die FAZ rügten den angeblichen "Anti-Intellektualismus" des Buchs. Eine Kritik, die sich nicht wirklich nachvollziehen läßt. Natürlich, manche von Schulzes Thesen sind diskutierenswert, warum auch nicht, im großen und ganzen aber läßt sich dieses Buch nicht anders denn als imposanter Wurf bezeichnen – eine orginelle Epochendiagnose, die nicht nur duch stringente Gedankenführung besticht, sondern auch durch stilistische Virtuosität. "Die beste aller Welten" – eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die Verwerfungen der westlichen Kultur interessieren.

Buchhinweis:
Gerhard Schulze: DIE BESTE ALLER WELTEN
Hanser Verlag (2003), ISBN: 3446202811.



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