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Simon Sebag Montefiore: DER JUNGE STALIN
S. Fischer Verlag (2007), 608 Seiten, ISBN-10: 3100506081

Simon Sebag Montefiore: Der Junge Stalin

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Rezension von Günter Kaindlstorfer


Leo Trotzki ließ kein gutes Haar an seinem Widersacher: Für ihn war Josef Stalin die personifzierte Mittelmäßigkeit, ein einfältiger Provinzler, der zu weitsichtiger Analyse und differenziertem Denken nicht fähig war. Ein Stalin-Bild, dem Simon Sebag Montefiore in seiner aufsehenerregenden Biographie des jugendlichen Tyrannen vehement widerspricht. Der 1878 in der georgischen Kleinstadt Gori geborene Schuhmachersohn Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili war in Montefiores Augen eine hochbegabte, aber moralisch defekte Persönlichkeit, die bereits in jungen Jahren mit verblüffenden Talenten von sich reden machte: auf intellektuellem, literarischem und sogar musikalischem Gebiet.

Montefiore gelingt es in seinem 500 Seiten starken Werk, ein ebenso fesselndes wie differenziertes Bild der Stalinschen Kindheit und Jugend zu zeichnen. Stalins Vater, ein Alkoholiker, besaß eine Schuhmacherwerkstatt mit mehreren Lehrlingen, seine Mutter, eine attraktive junge Frau, vergötterte den kleinen Josef, den sie wie alle anderen "Sosso" nannte, weckte in ihm früh die Liebe zu Blumen und zu den Liedern der georgischen Heimat. Stalins Gebärerin und Nährerin, so Montefiore, gab ihrem Sohn von früh auf das Gefühl, zu Höherem geboren zu sein, nach Freud die sicherste Methode, in empfindsamen Knabenseelen extreme Größenphantasien zu entwickeln. Und so ließ Stalin bereits in zartem Knabenalter ein gebieterisches Selbstbewußtsein erkennen. Zugleich, und das dürfte entscheidend für seine spätere Entwicklung gewesen sein, versank der Vater immer tiefer in den Zwängen seiner Sucht. Der Schuhmacher Wissarion Dschugaschwili vernachlässigte sein Geschäft, misshandelte seine Frau, verdrosch den Sohn, oft mehrmals am Tag. Bei diesen Prügelexzessen konnte sich Dschugaschwili senior in regelrechte Rasereien hineinsteigern. Einmal schleuderte er den Vierjährigen Sosso so heftig zu Boden, berichtet Montefiore, daß der Kleine tagelang Blut im Urin hatte.

Eine verzärtelnde Mutter und ein gewalttätiger, dem Alkohol ergebener Vater - eine unheilvolle Konstellation, die auf frappierende Weise an die familiären Verhältnisse im Hause eines elf Jahre nach Stalin geborenen Zollamtsoberoffizial-Sohns aus Oberösterreich erinnert: an Adolf Hitler. Gewaltgetränkt war die Atmosphäre der Stalinschen Kindheit auch abseits des Elternhauses. Sosso wuchs als Straßenbub in einer Welt gewalttätiger Jugendbanden auf, Banden, die im traditionell machistischen Georgien noch um einiges brutaler, archaischer, gewaltversessener waren als andernorts. Zugleich erwies sich Sosso als engagierter, auffallend intelligenter Schüler, der nicht nur als Klassenprimus in verschiedenen Fächern, sondern auch als Chorknabe gute Figur machte. Mit 16 durfte er auf Initiative seiner frommen Mutter ins orthodoxe Pristerseminar von Tiflis wechseln, DER damaligen Eliteschule Georgiens. Simon Sebag Montefiore zeichnet dieses Internat als totalitäre Zwangsanstalt, in der die Mönche ihre Schüler nach Kräften drangsalierten. Das Priesterseminar von Tiflis bot Stalin nicht nur machttechnisch erstklassigen Anschauungsunterricht, es gab ihm auch intellektuell jenes Rüstzeug zur Hand, das er für seine spätere Karriere als Politiker gut gebrauchen konnte. Montefiore schreibt:

Zitat:
"Stalins Erfolg gründet zumindest teilweise auf der Verbindung von höherer Bildung – die er dem Priesterseminar verdankte – und Straßengewalt. Er war, was selten ist, sowohl ein ,Intelligenzler\', als auch ein Mörder."

Im Priesterseminar wandelte sich Sosso, der Vorzugsschüler, zum Rebellen. Nachts im Bett liest er verbotene Bücher. Die Lektüre von Emile Zola, Charles Darwin, Karl Marx macht ihn zum Atheisten. Zusammen mit Mitschülern gründet er einen illegalen Lese- und Studienzirkel. Man sympathisiert mit radikalen antizarisischen Gruppen. Stalin wird Marxist, schließt sich, nachdem er wegen fortgesetzter Renitenz des Priesterseminars verwiesen wird, der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands" an, aus denen nach mancherlei Spaltungen und Zersplitterungen schließlich die Bolschewiki hervorgehen werden.

Anschaulich schildert Simon Sebag Montefiore die politische Atmosphäre im Tiflis der späten 1890er Jahre. Soziale und nationale Spannungen sorgen für fortwährende Unruhen in der Stadt. Georgische Nationalisten und internationalistisch orientierte Sozialisten kämpfen um die Vorherrschaft im anti-zaristischen Befreiungskampf. Die Methoden der revolutionären Linken sind alles andere als zimperlich. Raubüberfälle gehören ebenso zum revolutionären Repertoire wie Fememorde, Attentate und Bombenanschläge mit Dutzenden Toten. Die Grenzen zum organisierten Verbrechen sind fließend. Mitten im Geschehen: Josef Stalin.

Zitat:
"Zum ersten Mal lässt sich seine Rolle bei Banküberfällen, Schutzgelderpressungen, Brandstiftungen, Piraterien und Morden dokumentieren... Dabei war Stalin mehr als ein Gangsterboß: Er war auch ein begabter politischer Organisator, Vollstrecker und Meister in der Unterwanderung der zaristischen Sicherheitsdienste."

Der junge Stalin machte rasch Furore als Mastermind des bolschewistischen Terrors. Das Geld, das seine Leute bei ihren Raubüberfällen erbeuten, läßt er ohne größere Abzweigungen zu Lenin ins Ausland überweisen. Wladimir Illjitsch Uljanow, der Führer der Bolschewisten, weiß die Dienste seines kaukasischen Verbindungsmanns durchaus zu schätzen. Als eine georgische Mischung aus Andreas Bader und Al Capone organisiert der Mittzwanziger Josef Stalin Banküberfälle, Schutzgelderpressungen und Schiffskaperungen, er gibt Fememorde und politische Attentate in Auftrag, zugleich inszeniert er Streiks und Massendemonstrationen, erweist sich auch als hochbegabter Publizist. Unter wechselnden Pseudonymen gibt Stalin manchmal fast im Alleingang revolutionäre Zeitungen heraus.

Dabei verstrickt sich der junge Revolutionär immer tiefer in das System der sogenannten "Konspirazija", ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Stalinschen Persönlichkeit. "Konspirazija" heißt: Revolutionäre Kampforganisationen und zaristische Geheimpolizei durchdringen einander oft bis zur Ununterscheidbarkeit. Dostojewski hat diesen Mechanismus in seinen "Dämonen" eindrucksvoll beschrieben. Die zaristische Ochrana, der nach Montefiores Einschätzung "beste Geheimdienst" seiner Zeit, schleuste hunderte und tausende Spitzel in die revolutionären Organisationen ein. Die Ochrana-Agenten erforschten nicht nur das Innenleben der oppositionellen Gruppen, sie leiteten sie bisweilen sogar. Der zaristische Geheimdienst ging sogar so weit, eigene revolutionäre Gruppen und Gewerkschaften zu gründen.

Zitat:
"Es war ein kompliziertes Spiel der Verschleierung, der Spiegel und Schatten. Die Gegner waren in einer intimen, verzweifelten und amoralischen Umarmung verschränkt, in der Agenten, Doppelagenten und Dreifachagenten Versprechen abgaben, Verrat übten, die Seiten wechselten und ihren Verbündeten erneut untreu wurden."

Mit dem massiven Einsatz von Agents Provocateurs verband die Ochrana ein strategisches Kalkül: In den revolutionären Gruppen sollte ein Klima des systematischen Argwohns, der Hysterie und der Paranoia geschürt werden. Das gelang aufs glänzendste. Öfter als einmal musste Stalin erleben, daß er von scheinbar verlässlichen Genossen verraten wurde – eine Erfahrung, die den Verfolgungswahn des späteren Diktators zumindest im Ansatz zu erklären vermag.

Montefiores glänzende Biographie des jungen Stalin beschreibt die Zeit von 1878 bis zum Ende der Oktoberrevolution. In den knapp zwanzig Jahren im Untergrund brachte es der spätere Diktator Montefiores Nachforschungen zufolge auf insgesamt neun Verhaftungen, acht Fluchten und vier Verbannungen nach Sibirien. Für einen Berufsrevolutionär eine durchaus stolze Bilanz.

Von seiner äußeren Erscheinung her gab sich der junge Stalin ganz als Bohemien. Er kleidete sich künstlerhaft-leger, trug langes, hippiehaftes Haar, hatte zahllose Affären und Liebschaften. Vor seiner Karriere als Bolschewist war der spätere Massenmörder auch ein georgienweit gefeierter Naturlyriker. Montefiore zitiert eines von Stalins frühen Gedichten:

Zitat:
"Der Rose Knospe war erblüht
Und reckte sich, das Veilchen zu berühren.
Die Lilie erwachte
Und neigte den Kopf in der Brise.

Hoch in den Wolken die Lerche sang
Ein zwitschernd Loblied.
Während die frohe Nachtigall
Mit sanfter Stimme sagte:

"Sei voll von Blüten, o liebliches Land.
Frohlocke, Staat der Iberier.
Und du, o Georgier, durchs Lernen
Mach deiner Heimat Freude."

Auch Osama-bin-Laden liebt es bisweilen, sich als Lyriker auszudrücken. Eine Parallele, die keineswegs zufällig sein dürfte. Simon Sebag Montefiores Resümee:

Zitat:
"Terroristische Organisationen – ob bolschewistische zu Beginn des Zwanzigsten oder dschihadistische zu Beginn des 21. Jahrhunderts – haben vieles gemeinsam."

Im Lichte der späteren Stalinschen Karriere betrachtet: eine alles andere als beruhigende Perspektive.

Buchhinweis:
Simon Sebag Montefiore: DER JUNGE STALIN
S. Fischer Verlag (2007), 608 Seiten, ISBN-10: 3100506081.



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