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Jesus Diáz: DIE DOLMETSCHERIN
Roman, Piper Verlag (2003), 252 Seiten, ISBN: 3492044158.

Jesus Díaz: Die Dolmetscherin

Roman aus dem kubanischen Spanisch von Astrid Böhringer
Rezension von Günter Kaindlstorfer


Der diskrete Charme der Kontraste: Es sind zwei denkbar unterschiedliche Welten, die der Kubaner Jesus Díaz in seinem Roman "Die Dolmetscherin" aufeinanderprallen läßt. Der kubanische Journalist Bárbaro Valdés, ein sympathischer, etwas naiver junger Mann von 25 Jahren, soll ins Vaterland der Werktätigen reisen, in die ruhmreiche Sowjetunion, um eine Reportage über den Bau der "Baikal-Amur-Magistrale" zu schreiben, einer dreitausend Kilometer langen Eisenbahnstrecke quer durch Sibirien. Ein Schwarzer in der Taiga, ein tumber Habanero in den eisigen Weiten Sibiriens, das ist natürlich der Stoff, aus dem sich eine erstklassige Groteske fertigen läßt. Jesus Díaz macht von den komödiantischen Möglichkeiten des Genres reichlich Gebrauch. Bárbaro, unter sexuellen Versagensängsten leidend, ist auch im Alter von 25 noch "Jungfrau", er zeigt sich fest entschlossen, im fernen Sibirien erstmals die Mysterien der Liebe zu vollziehen.

Bebend vor Flugangst sitzt der junge, aus den Slums von Havanna stammende Kubaner im Flugzeug ­ zum ersten Mal in seinem Leben. Die Propeller der Tupolew 104 rattern über dem nördlichen Polarkreis, Bárbaro kotzt die Reste seines Mittagessens in die Aeroflot-Papiertüte und denkt, während er erschöpft in seinen Sitz zurücksinkt, über sein Leben nach.

Zitat:
"Er spürte einen Stich, weil ihm klar wurde, daß ihn seine Impotenz todunglücklich machte. In Kuba fühlte er sich unter Druck wegen seiner zurückliegenden Mißerfolge bei Frauen und auch und vor allem deshalb, weil er panische Angst davor hatte, daß eine von ihnen seine Tragödie preisgab, wie es dieses Miststück getan hatte, mit dem er das letzte Mal ins Bett gegangen war."

Bárbaro will den Aufenthalt in Sibirien für eine glanzvolle Rehabilitation nützen, eine Rehabilitation in erster Linie vor sich selbst. Zitternd vor Kälte steigt der junge Mann in Irkutsk aus dem Flugzeug. Auf dem Rollfeld erwartet ihn seine persönliche Dolmetscherin, Nadeshda, eine frostige Schönheit mit eisblauen Augen. Unverzüglich erliegt Bárbaro den Reizen seiner Reisebetreuerin. Über 200, etwas langatmige Seiten hinweg schildert Jesus Díaz dann das schüchterne Liebeswerben des Kubaners, den weder subarktische Temperaturen noch der polternde Rassismus der sowjetischen Genossen zu entmutigen vermögen. Der kubanische Romancier erzählt von Borschtsch-Bacchanalien und gewaltigen Besäufnissen in verlausten Bauarbeiter-Camps, er macht die unerqicklichen Begegnungen seines kubanischen Anithelden mit sowjetischen Freiluftlatrinen ebenso anschaulich wie die unerfüllte Liebessehnsucht des schmachtenden Kariben.

Zitat:
"Er schaute Nadeshda verzückt nach und war sich vollkommen sicher, daß es auf der ganzen Welt kein schöneres Augenpaar als das dieser Sibirerin und keine abweisendere Landschaft als die unermeßliche Taiga am Ende des Winters gab. Sein Blick wanderte über die eisigen Schatten der Landschaft, und er fragte sich, was er eigentlich hier tat, in einer Gegend, in der nie zuvor irgendein Kubaner, irgendein Schwarzer gewesen war, und er wußte nicht, ob er loslachen oder weinen sollte. Er atmete die schneidend kalte Luft ein und dachte, daß ihm, wenn er lachte, die Mandeln, und wenn er weinte, die Tränen gefrieren würden."

So weit, so unerfreulich. Es ist freilich nicht nur die Kälte, die Bàrbaro zu schaffen macht, sondern mehr noch die verstörende Hantigkeit seiner Dolmetscherin, die ihm teils verführerisch, teils auch grausam abweisend gegenübertritt. Gegen Ende des Romans hin erfahren wir, woher die Sprödigkeit der Genossin rührt: Nadeshda ist einem in Selbstmitleid ertrinkenden Wodkasäufer angetraut, einem Forstwirt, der regimekritischer Umtriebe wegen zehn Jahre lang im Breschnewschen Gulag schmachten mußte. Ihm als edelmütige Retterin zur Seite zu stehen, hat sich Nadesha in helfertickhafter Selbstlosigkeit zur Lebensaufgabe erkoren. In der gerafften Nacherzählung mag das alles einigermaßen amüsant klingen. Eine Täuschung. In der Real-Time-Lektüre erweist sich Díaz¹ Roman als matte Sache. Die Erzählung kommt und kommt einfach nicht von der Stelle. Über weite Strecken hin erinnert dieses Buch ­ was die Kriterien Dramaturgie und Tempo betrifft ­ an einen Leitartikel der "Komsomolskaja Prawda". Gegen Ende hin versinkt die Handlung dann in telenovelahafter Schwülstigkeit: Den finalen Liebesakt zwischen Nadeshda und Bárbaro läßt Jesus Díaz im Freien über die Bühne gehen ­ bei zwanzig unter Null. Jesus Díaz beschreibt die interkulturelle Begegnung im sowjetischen Winter so:

Zitat:
"Nadeshda bohrte ihm ihre Fingernägel in den Rücken, schlang ihre Beine um seine Hüften und fing an zu keuchen. Instinktiv begriff er, daß er in sie eingedrungen war, er spürte, wie sein Geschlecht von einer wohligen, feuchten Wärme umschlossen wurde... Plötzlich lag Bárbaro auf dem Rücken, sie galoppierte auf ihm wie eine junge Stute, und tief in seinem Inneren entstand ein ungeheures Glücksgefühl, das mit der Geschwindigkeit eines Stromstoßes bis zu seiner Kehle raste und sich dort in einen Schrei der Erfüllung verwandelte. In diesem Moment packte er sie an den Hüften und ergoß sich in ihr."

Die "Literary Review" in London verleiht alljährlich den "Bad Sex Award" für die schlechteste Sexszene des Jahres. Mit der eben zitierten Sentenz hat sich Jesus Díaz posthum und äußerst eindrucksvoll in die Riege der Favoriten katapultiert. Doch damit nicht genug: Gekrönt wird der Roman von einer unerhört kitschigen Wendung. Beim Sex im Freien hat sich Bárbaro, der an die eisigen Temperaturen Sibiriens nicht Gewöhnte, so schrecklich an der Lunge verkühlt, daß Díaz ihn nach mehrtägigem Fieberdelirium sein Leben in den Armen der schönen Nadeshda aushauchen läßt. Ein melodramatisches Finale im Stil einer Berlusconi-Soap. Fazit? Poststalinistische Eintönigkeit und karibischer Schwulst gehen in diesem Buch eine ausgesprochen unglückliche Mesalliance ein. Jesus Díaz, vor einem Jahr im spanischen Exil verstorben, wird der Nachwelt mit seinen großen Romanen in Erinnerung bleiben. "Die Dolmetscherin" gehört nicht dazu.
 

Buchhinweis:
Jesus Diáz: DIE DOLMETSCHERIN
Roman, Piper Verlag (2003), 252 Seiten, ISBN: 3492044158.



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