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Peter Rühmkorf

"Die Pariser Philosophen sind banal!"

PETER RÜHMKORF über die postmodernen Meisterdenker aus Frankreich, das Betörende an Gottfried Benn und sein Faible für die Sozialdemokratie

Im Bewußtsein der Öffentlichkeit galten Sie zeit Ihres Dichterlebens als ungestümer junger Mann. Wie fühlt sich der junge Mann, wenn er plötzlich ein Alter erreicht hat, in dem seine Mitbürger in Rente gehen?

Rühmkorf: Ja, wie fühlt er sich? Wenn ich mir die Bücher ansehe, die ich als ganz junger Spund geschrieben habe, und dann jetzt die neueren und neuesten danebenhalte, kann mir schon mal der Schrecken ins Gebein fahren. Weil ich zugeben muß, daß ich mich fast gar nicht entwickelt habe. Aber vielleicht ist das ja auch so eine Art von Entwicklung, daß man gegenüber den sich jagenden Moden und Saisonen einigermaßen stabil geblieben ist.

Sie haben einmal gesagt: "Ich habe viele Schlachten verloren, aber nie meine Identität." Ein Befund, den Sie heute noch aufrechterhalten?

Rühmkorf: Doch, ich glaube schon. Die Erfahrung mit den verlorenen Schlachten ließe sich natürlich bis in die letzten Tage weiterverfolgen. Gerade im Augenblick werden wir bemoosten Altlinken natürlich mächtig auf die Probe gestellt. Ich meine, man fragt sich doch allmählich, was wir mit unserem Veteranenbegriff von Sozialismus noch anfangen können. Da haben wir im bröckelnden Ostblock doch so richtige Paprika- und Tomatenrepubliken, in denen die Leute noch nicht mal Paprika und Tomaten zu kaufen kriegen, das ist doch kein Zustand – von Fortschritt ganz zu schweigen. Ich glaube allerdings, daß das Gebröckel schließlich auf Lockerheit und Freiheitlichkeit ausläuft und sich manches in Richtung Sozialdemokratie entwickeln wird.

Das heißt aber auch: in Richtung Kapitalismus.

Rühmkorf: Nun läßt ja auch der real existierende Kapitalismus die unterschiedlichsten Facetten erkennen. Also, um es konkret zu sagen: Ich möchte mit Sicherheit nicht als Neger in den New Yorker Slums leben, aber eine Angestelltenexistenz in Schweden kann ich mir schon vorstellen. Beides sind kapitalistische Modelle. Beides Möglichkeiten. Wobei das Land der "unbegrenzten Möglichkeiten" mir ziemlich impossible erscheint. Daß man im sich umstrukturierenden Osten nicht gleich mit Volldampf auf kapitalistische Monopolbetriebe zusteuert, finde ich absolut in Ordnung. Daß heute Großkonzerne ganze Länder, Nationen, Militärpakte beherrschen und die westlichen Großbanken uns zeigen wollen, wo es mit der Demokratie langgeht, gehört bei mir nicht zu den Hoffnungsprinzipien. Nein, darauf sollen die ruhig mal verzichten. Aber im Mittelbau, beim mittleren Mittelstand, da muß sich was ändern, da muß man die Entfaltungskräfte von der Leine lassen. Auf dieses kleine Unternehmertum, auf diesen Unternehmergeist der Bauleute und Elektriker und Klempner und Installateure und Schuster und Schneider und Bäcker und Maler und Tapzierer hat noch keine Zivilisation der ganzen Weltgeschichte verzichten können. Dies energische Vorwärtsstreben auf einer mittleren Ebene darf auch einen sozialistischen Staat nicht genieren. Im Gegenteil: Da sitzen die wirklich hüttenbauenden und staatstragenden Kräfte.

Peter Rühmkorf war immer ein politischer Autor, ein Streiter für die Aufklärung. Nun waren die achtziger Jahre kein besonders gutes Dezennium für solche Autoren. Würden Sie das auch so sehen?

Rühmkorf: Nicht so ganz. Nicht ganz so. Meine eigene Schreibertätigkeit wird von zwei Antrieben gespeist, einem tagespolitisch-prosaischen und einem etwas weltenthoben-poetischen. Hier der Besen – dort der Pinsel, um es mal in einem Bild zu sagen.

Mit dem "Besen" meinen Sie Ihre Essays?

Rühmkorf: Nun ja, "Essays", das klingt mir fast ein bißchen zu edel. Ich schreibe Reden. Aufsätze. Leit- und Streitartikel. Ich trete in Wahlversammlungen auf und steig' da sozusagen in die Bütt. In unserer bundesdeutschen Parteiendemokratie trommel oder pfeif' ich seit einigen zig Jahren für die Sozialdemokratie, so einfach ist das.

Auf Ihr politisches Engagement werden wir später noch zu sprechen kommen. Bleiben wir zunächst bei den beiden Seelen in Ihrer Brust...

Rühmkorf: Die Seele des Poeten und die Seele des politischen Gemeinschaftswesens. Die eine schätzt nicht immer, was die andere treibt, und manchmal kriegen sich die beiden ungleichen Schwestern auch richtig in die Wolle.

Sie sind weiß Gott nicht der erste deutsche Schriftsteller, der mit dieser Gespaltenheit leben muß.

Rühmkorf: Nein, das ist ein altes Widerspruchspaar – in unseren Breiten besonders durch Heinrich Heine bekannt geworden. Der Poet lechzt nach unbegrenzter, individueller Entfaltungsfreiheit, und der politische Gemeinschaftsmensch predigt Gleichheit und Gerechtigkeit – da muß man manchmal ein beschwörendes "Brüderlichkeit" dranhängen, drübersprechen.

Was Ihre politischen Präferenzen angeht, stehen Sie der SPD nahe, wie Sie schon sagten. Haben Sie nie daran gedacht, Ihre Sympathien ein bißchen ins Grüne abdriften zu lassen?

Rühmkorf: Meine eigene politische Sozialisation hat sich – mit ein paar Extratouren nach dieser oder jener Seite – in sozialdemokratischen Geleisen vollzogen, obwohl "Geleise"? Sagen wir mal, ich habe mich in kritischer Nähe zur SPD bewegt, und weil ich kein Mitglied bin, nie war, hab' ich diese Nähe nie als klebrig, klettig empfunden. Was die Grünen angeht, so hab ich lieber 'n bißchen auf Distanz gehalten. Wissen Sie, das war zeitweilig doch ein ziemlich wilder Hummelschwarm, um nicht gar von Wespen zu reden. Sie haben mich immer ein bißchen an die 67er, 68er Apo-Szene erinnert, die ich nicht in der allerbesten Erinnerung habe. Wer Politik sagt, der muß auch in Strukturbegriffen denken. Wer in parteipolitischen Strukturen denkt, muß in Mehrheitsdemokratien auch Disziplin und manchmal die Schnauze halten können. Und er muß – so seltsam das jetzt klingt – auch den nötigen Sinn für überragende politische Bejahungen entwickeln. All das heißt jetzt nicht, daß ich den Grünen nicht eine ganze Menge Sympathien entgegenbringe. Die rot-grünen Bündnisse in Berlin und Frankfurt betrachte ich mit interessiertem Wohlwollen. Wenn ich sehe, wie der einstmals vielseitig reizbare und leichtfertig sprungbereite Dany Cohn-Bendit auf einmal den feinfühligen Multikulturreferenten macht, wird mir beinahe warm ums Herz. Das heißt, diese Nummer scheint mir wirklich erbaulich – und Erbaulichkeit hat mit Bauwillen und Struktur zu tun, um das nochmal zu wiederholen.

Ihre poetische Mannwerdung, wenn ich das so formulieren darf, haben Sie vor allem auch mit Gottfried Benn erlebt. Wie geht das zusammen? Der linke Jung-Dichter und der reaktionäre Groß-Lyriker?

Rühmkorf: Das hängt dann wieder mit den oben erwähnten zwei Seelen zusammen. Ich blicke auf Benn zurück wie etwa Heinrich Heine auf Goethe zurückblickte – gewissermaßen ehrfurchtsvoll. Heine konnte Größe verehren, ohne gleich auf den Pfennig zu gucken. Er hat gesagt, Goethe ist als Dichter zu groß, um aus demokratischen Gleichheitserwägungen an ihm rumzuschmirgeln. Sehen sie, und ein vergleichbares Verhältnis habe ich zu Gottfried Benn. Er hat sich EINMAL auf das Feld der Politik gewagt und sich sofort radikal in der Adresse geirrt – was natürlich jeden Liebhaber peinigt –, aber er ist doch gleichzeitig der ganz große Seelendoktor, Handaufleger und Beschwörungskünstler, das kann man gar nicht oft genug sagen. Benn kann das, was von zigtausend Künstlern nur ganz wenige können: mit magischer Stimme auf den Menschen einreden, daß er sich vom Kopf bis in die Eingeweide ergriffen fühlt. Und von was ergriffen? Ich will es Ihnen sagen: Benn hat ein großes Thema immer wieder auf dem Tapet gehabt – das Leiden am Bewußtsein, den eigentlich modernen Dachschaden. Und da spricht er dann sein so einfaches wie überweltliches Heile-heile-Segen drüber: "Komm, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot." Das Leiden am Bewußtsein, Gottfried Benn ist genau der richtige Wunderdoktor dafür. Ich könnte Ihnen als solchen Großdrogisten natürlich auch Ihren Georg Trakl nennen. Der erscheint beim ersten Hinhören nur negativ, und alles ist melancholisch verhangen und zieht nur hinab. Aber wer sich einläßt auf diese wundervollen Wahnsinnsmelodien, der wird – nein, eben nicht wahnsinnig, sondern verstanden und getröstet und aufgehoben.

Sie haben Ihre Jugendzeit in den fünfziger Jahren verlebt. Wie war das damals?Sie haben sich einmal über die "Kühlschrankmoral" lustig gemacht, die damals geherrscht hat.

Rühmkorf: Na ja, die fünfziger Jahre waren kein einheitlicher Zeitblock. Rückblickend sehe ich eine ziemlich bunte Mischung aus Bedrückungen und Hoffnungen. Politisch, gesellschaftlich gesehen, empfanden wir sie als restaurative Dunstglocke, was sie sicher waren. Sie waren aber auch unsere wilden Jünglings- und Aufbruchsjahre. Wir drückten ja noch die Unibänke, entwickelten unser eigenes gesellschaftliches Leben und setzten der großen Gesellschaft unseren selbstgemachten Begriff von Geselligkeit entgegen – es war gar kein Begriff, es war unser wirkliches Handeln und Treiben. Wir versuchten, den Stickmief zu durchdringen – auf dem Kabarett, in unserer Studentenzeitung "konkret". Statt uns paralysieren zu lassen, haben wir mächtig in die Gesellschaft hineingefunkt.

In den achtiger Jahren ist die von Ihnen so inbrünstig repräsentierte Aufklärung, vor allem von Paris aus, kräftig unter Beschuß gekommen.

Rühmkorf: Das ist eigentlich gar nicht mein Problem. Die späten sechziger Jahre waren natürlich bewegter. Von uns her gesehen auch enthusiastischer, furioser. Dann folgten aber sehr bald die desillusionierenden Siebziger, die Enttäuschungs- und Vereinzelungsjahre, und jetzt gehen die Achtziger schon wieder auf ihr Ende zu, und die werden doch – wir sprachen vorhin davon – immer wirbeliger. Diese französischen Philosophen halte ich übrigens für so eloquent wie banal. Auch gefährlich, das sicher. Das sind doch alles reicher Leute Kinder, die sich aus neuem kaltem Krieg und krudem Antikommunismus eine Zeitlang einen guten Tag gemacht haben. Bloß, denen fallen jetzt langsam die gezinkten Karten aus der Hand, woll'n mal sehen, auf was für hirnrissige Gedanken die fürderhin kommen. Egal, das ist überhaupt nicht mein Problem. Ich bewege mich, seit ich politisch denken kann, auf dem Boden der Sozialdemokratie, was von der Weltuntergangswarte her vielleicht primitiv erscheint, aber Kontinuität ist doch eigentlich ein guter und rarer Artikel. Wirklich praktisch gesehen, erkennt man auch überall Hoffnungsschimmer. Im Bundesland Schleswig-Holstein ist es etwa gelungen, die reaktionäre Barschel-Mafia abzulösen. In dem für mich zuständigen Stadtstaat Hamburg haben wir es durch gehörige Werbetätigkeit wenigstens zu einem sozialliberalen Bruch gebracht. Und in Frankfurt und Berlin leuchten die rot–grünen Kokarden doch auch ganz hübsch. Ich habe ja auf vielen Wahlversammlungen mein Scherflein beigetragen und weiß, wovon ich spreche. Das sind ehrenamtliche Tätigkeiten, für die einen niemand bezahlt oder belohnt. Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht darum, was man politisch will. Und wenn das praktisch sogar hier und da aufgeht, gibt's keinen Grund zum Schwarzsehen.

Für utopische Ansprüche bleibt da wenig Platz.

Rühmkorf: Doch, doch – das sind für mich bereits utopische Ansprüche. Sie laufen bloß nicht auf ein Sankt-Nimmerleins-Land zu, sondern auf den nächsten Wahltermin.

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Erschienen in "Arbeiterzeitung", Wien, 27. Oktober 1989.

DAS BUCH:
Peter Rühmkorf: TABU 1 – TAGEBÜCHER 1989-1991
Rowohlt Tb. Verlag (1997), ISBN: 3499221535.



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