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Neil Postman

"Diderot, nicht Derrida!"

NEIL POSTMAN über das Elend der Postmoderne, das Schreiben mit Füllfeder und die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung. Von Günter Kaindlstorfer.

Mister Postman, fünfzig Prozent aller Amerikaner glauben an die Existenz von Aliens ­ in einem Zeitalter, das sich für aufgeklärt hält. Wie ist das zu erklären?

Postman: Die Leute haben ein gewaltiges Bedürfnis nach Welterklärung und Sinnstiftung. Sie sehnen sich nach einer "Erzählung", die ihnen ein Gefühl von Sicherheit, von Kontinuität gibt. Die großen Erzählungen der Vergangenheit haben ihre Macht verloren. Deshalb suchen die Leute nach Alternativen. Sie glauben an Aliens, die an der Eroberung der Weltherrschaft arbeiten, sie glauben an den Teufel, der im Geheimen die Machtergreifung auf Erden vorbereitet. Die Geschichten mögen obskur und verschroben sein, aber sie zeigen den Menschen immerhin, wo ihr Platz im Universum ist. Die Naturwissenschaft vermag das nicht mehr zu leisten. Sie kann die fundamentalen Fragen der Menschen nicht mehr beantworten.

Früher hatten die Leute Religionen und Ideologien, an die sie glauben konnten. Was haben sie heute?

Postman: Eben, nichts. Deshalb schlage ich in meinem neuen Buch ja vor, daß wir uns an die beflügelnden Ideen der Aufklärung erinnern. Im 18. Jahrhundert sind faszinierende Dinge geschehen. Kant hat die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeteten Unmündigkeit gefordert, Montesquieu entwickelte revolutionäre Gedanken zur Gewaltenteilung, Voltaire und Diderot unterzogen die institutionalisierte Religion einer fundamentalen Kritik, und David Hume bereitete die Grundlagen für die induktive Wissenschaft vor. Die Aufklärer wollten nicht das Paradies auf Erden errichten, aber sie entwickelten Ideen, die den Menschen ein besseres Leben ermöglichen sollten, ­ nicht nur technologisch und wissenschaftlich, auch politisch und sozial. Die meisten Thesen, Gedanken, Philosophien, an denen sich unsere moderne Welt orientiert, stammen aus der Zeit der Aufklärung. Es müßte doch möglich sein, diese Ideen mit neuem Leben zu erfüllen.

Glauben Sie wirklich, daß wir die Probleme des 21. Jahrhunderts mit den Konzepten des achtzehnten lösen können?

Postman (lacht): In der Tat, das glaube ich. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Die wirklich wertvollen Ideen werden niemals neu erfunden, wir kennen sie in der Regel bereits ­ aus den Konzepten und Ideen unserer Vorfahren. Und ich sage Ihnen etwas: Wie in früheren Zeiten haben die Leute auch heute ein enormes Bedürfnis nach Sinn, zumindest hier in Amerika, und ich nehme an, daß es in Europa nicht anders ist. Sie beginnen zu verstehen, daß technologische Innovation nicht das wichtigste ist. Menschlicher Fortschritt erfordert mehr als nur die permanente Weiterentwicklung von Computern und digitalem TV.

Schön und gut, aber glauben Sie nicht, daß die Ideen von Adam Smith und Immanuel Kant ein bißchen altmodisch sind, wenn man sie mit den modernen Erkenntnissen etwa von, sagen wir, Niklas Luhmann oder Richard Rorty vergleicht?

Postman: Ich glaube nicht, daß Adam Smith und Kant veraltet sind. Luhmann und Rorty haben in gewissen Gebieten Bedeutendes geleistet, gewiß, ich habe nichts gegen sie. Aber ich habe etwas gegen die postmodernen Philosophen, gegen Derrida, Lyotard, Baudrillard und all diese Leute. Deren Bücher haben etwas zutiefst Deprimierendes. Die Idee, daß man nicht mehr darauf vertrauen darf, daß Sprache die Realität zu beschreiben vermag, die Idee, daß alles relativ ist, daß es keine verbindlichen Autoritäten mehr gibt, all das hat etwas Niederschmetterndes. Dem setze ich die pluralistischen Konzeptionen der Aufklärung entgegen. Ich glaube in der Tat, daß Diderot Derrida vorzuziehen ist.

Besonders scharf gehen Sie in Ihrem Buch mit der SPRACHE der Postmoderne zu Gericht.

Die zweite Aufklärung - Neil Postman (Foto: Berlin Verlag)Postman: Das hängt mit dem dunklen, enigmatischen Stil zusammen, den Derrida und seine Leute entwickelt haben. Die Sprache der Postmodernisten ist in vielen Bereichen unverständlich, oft sogar unsinnig, wie kluge Textinterpreten nachgewiesen haben. Auch in dieser Beziehung halte ich es mehr mit den Autoren des achtzehnten Jahrhunderts: Rousseau, Swift oder Condorcet haben geglaubt, daß es möglich ist, zu sagen, was man meint, zu meinen, was man sagt, und zu schweigen, wenn man nichts zu sagen hat.

Derrida würde Ihnen jetzt "Naivität" vorwerfen.

Postman: Soll er doch! Derrida hat keineswegs so revolutionär neue Dinge entdeckt, wie er selbst vielleicht glauben mag. Seine Idee etwa, daß man der Sprache nicht vertrauen darf, ist weitaus älter als er selbst. Diese Sprachskepsis geht auf die Zeit der Jahrhundertwende zurück.

Was vermag Sprache in Ihren Augen zu leisten, Herr Postman?

Postman: Man darf ihr natürlich nicht hundertprozentig vertrauen, das wäre in der Tat naiv. Aber ich behaupte, daß sie immer noch ein brauchbares Instrument ist, um das zu verstehen, was man in Ermangelung eines anderen Begriffs Realität nennen könnte. Wir haben nichts Besseres als die Sprache. Ich werfe dem Postmodernismus aber nicht nur seine Sprachskepsis vor, sondern auch seinen erkenntnistheoretischen Relativismus.

Was heißt das?

Postman: Er behauptet, daß so etwas wie "Realität" nicht existiere, daß sie lediglich ein soziales Konstrukt sei.

Wo liegt da das Problem?

Postman: Das Problem liegt in der postmodernen Behauptung, daß es einen Unterschied zwischen "wahr" und "falsch" nicht mehr gäbe. Diese Auffassung muß schärfstens bekämpft werden. Natürlich kann man tausend Worte machen ­ auf französisch oder in einer anderen Sprache ­ um zu zeigen, daß alle wissenschaftlichen Theoreme nur sprachliche Konstruktionen ohne jeden Anspruch auf Wahrheit sind. Trotzdem bleibt es dabei, daß bestimmte Theorien "wahrer" sind als andere. Die Behauptung, daß das Blut durch den Körper kreist, daß Aids die Menschen krank macht und der Mond nicht aus grünem Käse besteht, ist einfach evidenter als die Behauptung, daß Aliens die Machtübernahme im Weißen Haus vorbereiten. Das wird sogar Monsieur Derrida zugeben.

Herr Postman, Sie stehen im Ruf, ein Technikfeind zu sein. Was antworten Sie darauf?

Postman: Dem widerspreche ich vehement. Etwas gegen Technik zu haben, ist genauso, als hätte man etwas gegen Essen. Wir brauchen beides zum Leben, Essen und Technik. Wenn wir allerdings zu viel essen oder ungesunde Nahrung zu uns nehmen, dann ist das schädlich. Und genauso verhält es sich mit der Technik. Wir sollten sie benutzen und nicht von ihr benutzt werden.

Auch in Ihrem Buch weisen Sie die Behauptung, ein Technikfeind zu sein, entschieden zurück. Bei der Lektüre einzelner Passagen hat man dann aber doch den Eindruck, daß Sie einer sind.

Postman: Nennen Sie mir ein Beispiel!

Sie polemisieren gegen die Ausstattung amerikanischer Schulen mit PCs.

Postman: Das hat mit der speziellen Situation in Amerika zu tun. Es gibt in unserem Land wahrhaftig dringlichere Probleme als die Ausstattung sämtlicher Klassenzimmer mit Computern. In New York und anderen Städten gibt es zum Beispiel immer noch Schulen, die zu wenig Stühle für die Kinder haben. Das müssen Sie sich vorstellen! Ich meine einfach, daß es in dieser Situation vordringlicher ist, Stühle anzuschaffen als teure Computer. Ist das technikfeindlich?

Und wenn's genügend Stühle gäbe, ­ hätten Sie dann etwas gegen Computer?

Postman: Nein, dann soll man Bill Gates meinetwegen die Freude machen und ein paar Milliarden in die digitale Hochrüstung der Schulen investieren.

Womit schreiben Sie Ihre Bücher, Mister Postman?

Postman: Mit der Füllfeder.

Und das wird auch so bleiben, ­ bis ans Ende Ihrer Tage?

Postman: Ich weiß es nicht genau. Meine Einstellung zu diesem Thema ist pragmatisch. Vor einigen Tagen hat die Verwaltung der New Yorker Universität mein Zimmer mit einem PC ausgestattet. Ich habe nicht darum gebeten, das haben die Jungs einfach so gemacht. Also, wenn ich jetzt an meinem Schreibtisch sitze, habe ich ihn genau im Blick.

Werden Sie ihn auch benutzen.

Postman (zögert): Mal sehen. Ich werde ihn benutzen, wenn ich feststelle, daß er mir in gewissen Dingen nützlich ist. Wenn er das nicht ist, dann lasse ich ihn so stehen, wie er jetzt dasteht.

Sie besitzen auch keinen Anrufbeantworter.

Postman: Nein, ich halte es einfach für unhöflich, Menschen, die mich anrufen möchten, mittels einer Maschine abzufertigen. Aus diesem Grund gibt es bei meinem Telefon auch keine Anklopffunktion.

Herr Postman, Sie zählen in Ihrem Buch auch die Dichter der Romantik zur Aufklärung. Ist das legitim.

Postman: Warum sollte es nicht legitim sein?

Weil Romantik und Aufklärung sich ausschließen.

Postman: Finde ich nicht.

Man kann doch nicht Anhänger von beidem sein! Es ist ja zum Beispiel auch unmöglich, gleichzeitig Fan der "New York Yankees" und der "Mets" zu sein.

Postman: Sie werden lachen, ich bin tatsächlich ein Fan von beiden Teams. Baseball ist in dieser Beziehung wie Philosophie (lacht). Ich halte zu den Yankees UND den Mets, weil sie in verschiedenen Ligen spielen. Genauso verhält es sich mit dem scheinbaren Gegensatzpaar Romantik und Aufklärung. Die Dichter der Romantik haben Fragen gestellt, die den Aufklärern nie in den Sinn gekommen wären, vor allem, was eine grundsätzliche Kritik der Technik betrifft. Und das war notwendig. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar.

Voltaire und Emerson sind kompatibel?

Postman: Absolut. Auch Hume und Shelley. Oder Diderot und Byron. Aufklärung und Romantik stehen in einem ständigen Dialog miteinander. Das beginnt schon bei Rousseau, der, obwohl selbst Aufklärer, einer der schärfsten Kritiker der Aufklärung war. Ich bin überzeugt, daß man die Welt von beiden Seiten aus betrachten muß, ­ von der Seite der Vernunft und von der Seite des Gefühls. Nur so bekommt man ein einigermaßen realistisches Bild.

 

In einer leicht gekürzten Fassung erschienen in "Tagesanzeiger", Zürich, 15. Februar 2000.

DAS BUCH:
Neil Postman: DIE ZWEITE AUFKLÄRUNG – VOM 18. INS 21. JAHRHUNDERT
Berlin Verlag (1999), 224 Seiten, ISBN: 3827001714.



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