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Pieter M. Judson: „Habsburg – Geschichte eines Imperiums – 1740 bis 1918“, aus dem Englischen von Michael Müller, C.H. Beck, München, 668 Seiten

Pieter M. Judson: Habsburg – Geschichte eines Imperiums

Rezension von Günter Kaindlstorfer
Bayerischer Rundfunk, Mai 2017


In der modernen Geschichtsschreibung galt das lange Zeit als Common Sense: Das Habsburgerreich war, zumal in den letzten Jahren seiner irdischen Existenz, ein schwankender Riese, ein Koloss auf tönernen Füßen, letztlich dem Untergang geweiht. Wirtschaftlich rückständig, militärisch schwach, von Nationalitätenkämpfen erschüttert: Das Imperium Kaiser Franz Josephs, ein „Reich ohne Eigenschaften“, war, so sahen es linke, liberale und auch nationalistische Historiker und Analytiker, den Herausforderungen der Moderne nicht gewachsen.
Pieter M. Judson präsentiert in seiner Epochenstudie „Habsburg – Geschichte eines Imperiums“ eine Gegenerzählung zu diesem Narrativ. Zugespitzt könnte man sagen: Der US-amerikanische Historiker stimmt ein als wissenschaftliche Arbeit getarntes Loblied auf das Haus Habsburg an. Es waren Maria Theresia und ihr Sohn Josef II., die das heruntergekommene Habsburgerreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus zu einem Staatsgebilde moderner Prägung umbauten, mit straffer Verwaltung, einer schlagkräftigen Armee und funktionierenden Institutionen. Der multiethnische Aspekt gehörte schon im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus zur DNA der habsburgischen Lande, wie Judson erklärt: 

ZITAT:
„In den 1780er-Jahren erstreckten sich die Besitzungen der Habsburger von Innsbruck im Westen bis nach Lemberg im Osten, von Mailand und Florenz auf der italienischen Halbinsel bis nach Antwerpen an der Nordsee und Klausenburg in den Karpaten, von Prag in Böhmen bis nach Vukovar und Belgrad.
Die Habsburger waren Herrscher über Territorien, die sich in heutiger Zeit auf zwölf verschiedene europäische Staaten verteilen, und ihre Untertanen verständigten sich im späten achtzehnten Jahrhundert in Sprachen, die heute als Deutsch, Flämisch, Französisch, Italienisch, Jiddisch, Kroatisch, Ladinisch, Polnisch, Rumänisch, Serbisch, Slowakisch, Ungarisch und Ukrainisch bekannt sind.“

Das war im Feudalismus nichts Besonderes, auch der Zar und der osmanische Sultan herrschten über transnationale Staatsgebilde. Mit der Industriellen Revolution, dem Aufkommen des Nationalismus und den sozialen Kämpfen des 19. Jahrhunderts wurden dynastisch-imperiale Staatskonzepte allerdings immer anachronistischer. Auch nach der liberalen Modernisierung, die sich Kaiser Franz-Joseph 1867 von progressiven Kräften abringen ließ, konnte das Habsburgerreich mit den fortschrittlicheren Staaten Westeuropas machtpolitisch und wirtschaftlich nur mit Mühe Schritt halten. Joseph Roth und Robert Musil haben die allmähliche Sklerotisierung „Kakaniens“ in ihren Romanen mit bis heute unerreichter, ironisch-melancholischer Genauigkeit beschrieben.
Pieter M. Judson sieht das alles ganz und gar anders. Er erzählt die Geschichte des Hauses Habsburg in seinem 670-Werk als eindrucksvolle, wenn auch von schmerzlichen Rückschlägen gekennzeichnete Erfolgsgeschichte. Die habsburgische Verwaltung funktionierte ab dem Hochbarock auch in den rückständigeren Gebieten des Reiches relativ gut, so Judson, die wirtschaftliche Entwicklung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht, und auch die zivilisatorisch-kulturellen Leistungen Österreich-Ungarns konnten sich, zumal im Vergleich zu Russland und dem Osmanischen Reich, absolut sehen lassen. Judson stimmt in seiner Studie ein überschwängliches Lob auf die Leistungen der habsburgischen Eliten, zumal im sogenannten Fin de Siecle, an:

ZITAT:
„Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts stellte das Reich der Habsburger immer häufiger und nachhaltiger seine einzigartige Fähigkeit unter Beweis, aus der kulturellen Diversität seiner Völker produktive Kraft zu gewinnen.“

Im November 1918 war’s damit vorbei. Mit dem Sturz des letzten Kaisers, Karl, zerbrach das Imperium. Die Nachfolgestaaten der k. und k.-Monarchie – Polen, Ungarn, Jugoslawien, die Tschechoslowakei und auch das kleine Rest-Österreich – behaupteten, mit der Welt der Habsburger nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun zu haben. Eine Illusion, meint Pieter M. Judson:

ZITAT:
„Die vom Habsburgerreich ererbten Strukturen und Praktiken lebten in Mittel- und Osteuropa weiter, wenn auch in ganz anderen Staatswesen und unter ganz anderen Umständen.“

Pieter M. Judson legt eine profunde, durch imponierenden Materialreichtum und analytische Schärfe bestechende Studie vor. Zugleich betreibt der in Florenz lehrende Historiker – das sei als Kritik angemerkt – lupenreine Elitengeschichte, Geschichte von oben, wenn man so will. Der Lebensvollzug der unteren Stände in den habsburgischen Landen – kaum jemals kommt er Judson in den Blick.
In letzter Zeit scheint sich in der Historiographie des Habsburgerreichs überhaupt mehr und mehr ein restaurativer Zug breitzumachen. Die 1000-seitige Metternich-Biographie des Münchner Historikers Wolfram Siemann, 2016 erschienen, war diesbezüglich ein erster Höhepunkt. Pieter M. Judsons Apologie des Habsburger-Reichs fügt sich in den neu-revisionistischen Trend der aktuellen Geschichtsschreibung umstandslos ein.

Pieter M. Judson: „Habsburg – Geschichte eines Imperiums – 1740 bis 1918“, aus dem Englischen von Michael Müller, C.H. Beck, München, 668 Seiten


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