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Paul Auster: „Bericht aus dem Inneren“, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Rowohlt-Verlag, Reinbek, 368 Seiten

Paul Auster: Bericht aus dem Inneren

Rezension von Günter Kaindlstorfer

Paul Auster erforscht sich selbst. Im Gegensatz zu seinem 2012 erschienenen „Winterjournal“, in dem der New Yorker Autor die Geschichte seines Körpers beschreibt, wendet er sich im neuen Buch der Geschichte seines BEWUSSTSEINS zu. Daher auch der Titel: „Bericht aus dem Inneren“. Auf den ersten Seiten erzählt Auster die Geschichte seiner Kindheit und Jugend in einem Vorort von Newark in New Jersey, die Geschichte eines allmählich erwachenden Selbstbewusstseins. Mit bewunderswerter Empathie versetzt sich der Schriftsteller in das Kleinkind, das er einst, vor mehr als sechzig Jahren, gewesen ist:

ZITAT:
„Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Scheren konnten gehen, Telefone und Teekessel waren Cousins, Augen und Brillen waren Brüder..., und der Kühlergrill vorn am Auto deiner Eltern war ein grinsendes Maul mit vielen Zähnen. Bleistifte waren Luftschiffe. Münzen waren fliegende Untertassen. Die Äste der Bäume waren Arme. Steine konnten denken, und Gott war überall.“

Der Animismus der frühen Kindheit ist ebenso Thema von Austers Selbsterkundung wie sein Staunen über die Wunder der Natur, die er als Bub im Garten hinter dem Haus seiner Eltern erforscht hat. Der Schriftsteller berichtet von frühen Lektüre-Exzessen und prägenden Kinoerlebnissen – etwa der Verfilmung von H.G. Wells’ Roman „Krieg der Welten“ –, er beschreibt, wann er sich zum ersten Mal als Amerikaner und wann zum ersten Mal als Jude gefühlt hat. Jude sein, das hieß in Austers Erfahrung, anders zu sein als die anderen, ein Außenseiter, einer, der nicht dazugehörte. Juden, das begriff Klein-Paul rasch, traten auf der Kinoleinwand allenfalls als Komiker in Erscheinung wie die Marx-Brothers, nie aber als strahlende Helden wie Stewart Granger oder John Wayne. Es gab einfach keine Cinemascope-Cowboys, die Bernstein oder Schwartz hießen, keine Leinwand-Detektive namens Greenberg oder Cohen, und wenn ein Jude Karriere in Hollywood machte, ein gewisser Issur Danielovich Demsky zum Beispiel, dann nannte er sich Kirk Douglas, um in der Glamourwelt des amerikanischen Kinos zu reüssieren.
Im ersten Teil seiner Kindheits- und Jugend-Memoiren liefert Paul Auster wie nebenbei eine farbige Mentalitäts- und Kulturgeschichte der 50er- und 60er-Jahre ab.

ZITAT:
„Deine damaligen Lebensverhältnisse: Amerika um die Jahrhundertmitte; Mutter und Vater; Dreiräder, Fahrräder und Handwagen; Radios und Schwarzweißfernseher; Autos mit Gangschaltung...; staatliche Schule; eine Familie aus der strebsamen Mittelschicht; ein Städtchen mit fünfzehntausend Einwohnern; Protestanten, Katholiken und Juden, fast alle weiß, nur sehr wenige Schwarze...; Comichefte; Rootie Kazootie und Pinky Lee; Campbell-Suppe, Wonder Bread und Dosenerbsen; frisierte Autos, Zigaretten für dreinundzwanzig Cent die Packung.“

Paul Auster scheint in seinem jüngsten Buch, einem retrospektiven Journal, den Ehrgeiz zu haben, in den Kopf des Kindes zu kriechen, das er vor mehr als einem halben Jahrhundert gewesen ist. In einer Sequenz rekapituliert der Autor die elterlichen Ratschläge und Ermahnungen, denen er seinerzeit ausgesetzt war.

ZITAT:
„Andern verzeihen, andern immer verzeihen – aber nie dir selbst. Bitte und danke sagen. Die Ellbogen nicht auf den Tisch stützen. Nicht angeben. Nie hinter jemandes Rücken etwas Unfreundliches über ihn sagen. Nicht vergessen, die schmutzigen Sachen in den Wäschekorb zu legen. Den Leuten in die Augen sehen, wenn du mit ihnen sprichst. Deinen Eltern nicht widersprechen. Die Hände mit Seife waschen und die Fingernägel schrubben. Nicht lügen, nicht stehlen, nicht deine kleine Schwester schlagen. Auf festen Händedruck achten. Um fünf zu Hause sein. Vor dem Schlafengehen die Zähne putzen.“

Die Zeitspanne, von der Paul Auster in seiner Kindheits- und Jugend-Autobiographie berichtet, reicht bis in die späten Sechziger, die ihn als melancholisch-grüblerischen Studenten in New York und Paris sehen.
Gegliedert ist der Band in vier höchst unterschiedliche Teile. Teil eins – der spannendste – ist den bereits skizzierten Kindheitsjahren Austers gewidmet. Im zweiten Teil beschränkt sich der Autor auf die Nacherzählung zweier Filme, die ihn als jugendlichen Kinogeher beeindruckt haben - „Jagd auf James A.“ und „Die unglaubliche Geschichte des Mr. C.“ aus dem Jahr 1957, ein Science-Fiction-Streifen, in dem sich ein Durschnittsamerikaner mit einem beunruigenden Schrumpfungsprozess konfrontiert sieht. Teil drei von Paul Austers „Bericht aus dem Inneren“ besteht im wesentlichen aus den Briefen, die er als junger Mann an seine damalige Freundin geschrieben hat, die Schriftstellerin ge Davis, die später seine erste Ehefrau wurde. Und Teil vier sind ein paar Dutzend Fotos, die die ersten drei Teile illustrieren und visuell kommentieren.
Paul Austers Buch macht einen disparaten Eindruck. Es beginnt unglaublich stark und läßt nach etwa hundert Seiten deutlich nach. Wirklich lesenswert ist nur der erste Teil, dann zerfasert der Text auf ärgerliche Art und Weise. Mag sein, dass Paul Auster – der die „Geschichte seines Bewusstseins“ in Du-Form, als sich selbst anredender Erzähler geschrieben hat –, mag sein, dass Paul Auster der Arbeit an seinem Buch wertvolle Erkenntnisse über sich selbst verdankt. Für den unbefangenen Leser sind die letzten 250 Seiten nur von bedingtem Interesse – obwohl das eine oder andere Foto in Teil vier ganz nett ist.

Paul Auster: „Bericht aus dem Inneren“, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Rowohlt-Verlag, Reinbek, 368 Seiten.


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