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Anna Mitgutsch: „Die Annäherung“, Roman, Luchterhand-Verlag, München, 442 Seiten

Anna Mitgutsch: Die Annäherung

Rezension von Günter Kaindlstorfer
ORF, „Ex Libris“, Mai 2016


Ein glamouröses Leben? Nein, Theo hat kein glamouröses Leben gehabt. Seine Tochter Frieda würde ihn als Kleinbürger bezeichnen, aber jetzt, mit 96, kratzt ihn das auch nicht mehr. Theo, so sieht es jedenfalls seine Tochter, ist sein Leben lang der Inbegriff des Befehlsempfängers gewesen: als 08/15-Landser in der deutschen Wehrmacht, als betriebsamer Gärtnereifachangestellter – und natürlich als Ehemann, den seine beiden Ehefrauen nach Lust und Laune dominieren durften. Theo, ein großer Schweiger vor dem Herrn, hat sich immer gern untergeordnet.

ZITAT:
„Über die Menschheit hat sich mein Vater nie Gedanken gemacht...“

... räsoniert seine Tochter:

ZITAT:
„Er sah nur das, was ihm am nächsten lag. Hätte man ihn vor die Wahl gestellt, die Welt zu retten oder einen höheren Stundenlohn zu bekommen, wäre ihm die Entscheidung leichtgefallen.“

Und dann, mit 96, wird Theo – von einem Tag auf den anderen, wie man so schön sagt – von einem Schlaganfall niedergestreckt. Seine Ehefrau Berta sieht sich außerstande, den Rekonvaleszenten zu pflegen, die alte Dame hat mit ihrer eigenen Gebrechlichkeit zu kämpfen. Auch Frieda, die Tochter aus erster Ehe, kann sich um Theo nicht kümmern. Die Lösung: eine 24-Stunden-Pflege muss her. Eine junge Frau aus der Ukraine, Ludmila, übernimmt den Job. Mit ihrer zupackenden Art bringt die sympathische Osteuropäerin aus der Nähe von Iwano-Frankiwsk das ganze, prekär stabile Familiensystem durcheinander. Eine Dynamik, die sich in vielen westeuropäischen Familien entwickelt, sobald Pflegekräfte aus Osteuropa ins Haus kommen, weiß Anna Mitgutsch:

OT Anna Mitgutsch:
„Man glaubt ja, es ist alles eingefroren, wenn ein Mensch achtzig, neunzig ist. Aber durch das Erscheinen dieser Frauen von außen entsteht noch einmal eine neue Familienkonstellation. Da wird Altes wieder aufgewühlt, da müssen Kinder die Beziehung zu ihren Eltern neu überdenken, da verändern sich Ehekonstruktionen, die sechzig Jahre lang gehalten haben. Und das hat mich fasziniert.“

Theo, der Pflegefall, entwickelt eine kindlich innige Zuneigung zu seiner ukrainischen Pflegerin. Die beiden bis dahin wichtigsten Menschen in seinem Leben – seine Ehefrau und seine Tochter aus erster Ehe – müssen fassungslos zusehen, wie Ludmila ihnen den Rang abläuft als unumschränkte Herzensfavoritin ihres greisen Vaters respektive Mannes. Dass Ludmila aus der ehemaligen Sowjetunion kommt, jenem Territorium also, in dem Hitlers Armeen vor siebzig Jahren aufs schrecklichste gewütet haben, ist ein Aspekt, der der explosiven Gemengelage zusätzliche Brisanz verleiht.

OT Anna Mitgutsch:
„Wenn man einen Protagonisten hat, der auf die hundert zugeht, der an die neunzig ist, und wenn man dessen Leben aufrollt, dann kann man gar nicht anders als das Zwanzigste Jahrhundert aufzurollen. Denn diese Menschen haben das ganze Zwanzigste Jahrhundert gelebt und zu einem gewissen Grad auch geprägt.“

Der Ausdruck „geprägt“ ist bei einem wie Theo vielleicht etwas hochgegriffen. Genau das ist es ja, was ihm seine Tochter in jüngeren Jahren immer wieder vorgeworfen hat: dass er immer nur mitgemacht hat in seinem Leben, auch als kleines Rädchen in der deutschen Wehrmacht.

ZITAT:
„Als Jugendliche war Frieda in ihrer Wahrheitssuche gnadenlos gewesen. Die Kompromisslosigkeit, mit der sie die Ideologien ihrer Generation vertreten hatte, stand Theo noch deutlich in Erinnerung... Für Frieda gab es nur Schuld oder Unschuld, Opfer und Täter. Dass es Grauzonen zwischen Wahrheit und Lüge gab, dass etwas so sein konnte, wie es schien oder auch ganz anders, das verstand sie nicht.“

Im Zentrum von Anna Mitgutschs Roman steht die konfliktgeladene Beziehung zwischen Vater Theo und seiner unglücklichen Tochter, die ihn – als 68-erin nicht ganz frei von den Selbstgerechtigkeiten ihrer Generation – immer wieder scharf ins Verhör genommen hatte:

ZITAT:
„In der Erinnerung kam es ihm vor, als habe sie jahrelang hartnäckig immer die gleichen Fragen gestellt: Wo warst du im Krieg? Was hast du gesehen, wo hast du zugeschaut? Was hast du geschehen lassen? Und keine Antwort hatte sie zufriedenstellen können.“

Theo reagiert hilflos auf die Vorhaltungen seiner Tochter:

ZITAT:
„Worüber hätte er ihr berichten sollen? Über die Verwundeten, aus denen das Blut sprudelte wie aus lecken Leitungsrohren, die ihre Eingeweide in den Händen hielten oder auf ihren Fuß starrten, der nicht mehr in Reichweite lag? Über die Tausenden von toten Rotarmisten in den Straßengräben und auf den Straßen, die von den darüberrollenden Fahrzeugen zu Brei zerquetscht worden waren? Die endlosen Gefangenentrecks? Die gefangenen Russen in ihren Pferchen aus Stacheldraht, die Erfrorenen? Wozu? Hätte sie dann den Krieg begriffen?“

OT Anna Mitgutsch:

„Ich denke, dieser Theo ist schon ein Prototyp des österreichischen Mannes dieser Generation. Das sind Männer, die mit ihren Gefühlen nicht umgehen und sie auf keinen Fall äußern können. Das sind Männer mit praktischer Veranlagung. Theo ist ein Durchschnittsmensch, ein solider Handwerker, der in eine historische Lage gerät, die über seine Kapazität geht. Er ist ja weder ein Nazi noch bei der SS noch interessiert er sich überhaupt für das Regime. Als die Nazis an die Macht kommen, schreibt er Liebesgedichte an das Mädchen, das er verehrt. Und trotzdem: Weil er in diese Zeit hineingeboren wird, ist es nicht anders möglich, als dass er sich schuldig macht.“

ZITAT:
„Was hättest du an meiner Stelle getan?“, fragte er.
„Ich wäre ausgewandert.“
„Ohne Sprachkenntnisse, ohne Schulbildung, ohne Geld? Mitten im Krieg? Wie stellst du dir das vor?“
In solchen Augenblicken wurde ihm der unüberbrückbare Abstand zwischen ihrem und seinem Leben bewusst.“

Anna Mitgutsch gelingt in ihrem Roman das verstörend intensive Porträt einer Familie am Rande der Sprachlosigkeit. Nicht nur Theo, dem notorischen Schweiger, auch seiner Tochter Frieda hat das Leben ein paar böse Blessuren geschlagen. Die hochfahrenden Jugendpläne der studierten Historikerin sind einem illusionsloseren Blick auf die Existenz gewichen. Das liegt an den Erfahrungen, die Frieda im Lauf ihres Lebens gemacht hat: zunächst die unüberlegte Ehe, dann, nach der Scheidung, der erbitterte Kampf um die Kinder, und zu schlechter Letzt der tödliche Fahrradunfall ihres 35-jährigen Sohnes in Schottland. Die finale Auseinandersetzung mit dem sterbenden Vater ist da nur noch das Tüpfelchen auf dem I.

OT Anna Mitgutsch:
„Sie ist in dem Dilemma, dass sie diesen Vater liebt und ihm gleichzeitig misstrauen muss.“

Am Ende finden Vater und Tochter doch noch zueinander – irgendwie,d ohne wirklich zueinander zu finden:

OT Anna Mitgutsch:
„Nein, es ist keine Geschichte des Scheiterns. Es ist eine Geschichte von gegenseitiger Liebe, die nicht dort ankommt, wo sie ankommen soll.“

Anna Mitgutsch beschreibt ihre Figuren mit Empathie und großer Herzenswärme, ohne dass ihr Roman je ins Gefühlsduselig-Sentimentale abgleiten würde. Eine nuanciertere, wahrhaftigere, berührendere Familiengeschichte hat man in jüngster Zeit kaum gelesen. „Die Annäherung“: Ein Roman, den die Jury des neugeschaffenen „Österreichischen Buchpreises“ mit gesteigerter Aufmerksamkeit studieren sollte.

Das Buch:
Anna Mitgutsch: „Die Annäherung“, Roman, Luchterhand-Verlag, München, 442 Seiten.


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