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Friedrich Nietzsche: SÄMTLICHE BRIEFE
Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, de Gruyter/dtv (2003), 3458 Seiten, ISBN: 3423590637

Waschlappen und Übermensch

Jetzt wieder im Buchhandel: Nietzsche unplugged ­ als Briefschreiber
Rezension von Günter Kaindlstorfer


Eine Frohbotschaft für Zarathustra-Jünger mit schmaler Geldbörse: Vier Jahre lang war die achtbändige Studienausgabe mit Nietzsches Briefen vergriffen, jetzt liegt sie in einer praktikablen Neu-Edition wieder vor. Die Korrespondenzen des sächsischen Groß-Nihilisten ermöglichen einen faszinierenden Einblick in Nietzsches Alltagswelt, gleichsam aus erster Hand. Nicht ohne Rührung liest man die ungelenken Briefe des Naumburger ABC-Schützen; mit sechs schreibt Volksschüler Fritz an Oma Erdmuthe, daß es ihm "gut geht", er hoffe, daß sich auch die Großmama wohl befinde. Wieviele Generationen von Erstklässlern haben sich solche Briefe schon abgerungen? Mit zehn berichtet Nietzsche der Mutter in Eilenburg, daß er nachmittags mit Tante Lina eine Gemäldeausstellung besucht und abends ein Kännchen "Chokolade" getrunken habe.

Auch große Genies fangen klein an. Ganz und gar alltäglichen Themen widmen sich auch die Briefe, die Pennäler Fritz aus der Elite-Lehranstalt Schulpforta nach Hause schickt. Der kränkelnde Zögling, ein notorischer Vielleser, ersucht um die Zusendung von Waschlappen und ETA-Hoffmann-Novellen, da ihm der Lesestoff auszugehen drohe. Überhaupt wird viel ersucht in diesen Internatsbriefen: "Nietzsche bittet um die Erlaubniß, sich eine Badehose nebst Bademütze anzuschaffen", heißt es in einem Schreiben an Lehrer Kletschke.

Die kritische Brief-Edition in acht Bänden bedient ein voyeuristisches Interesse, keine Frage. Pikante Details und decouvrierende Enthüllungen aus Nietzsches Privatleben wird man allerdings vergeblich suchen. Der geniale Philosoph in Unterhosen – das spielt\'s auch in den Briefen nicht. Schon gar nicht im Zusammenhang mit Lou von Salomé, der schönen Aristokratin, der Nietzsche im Frühjahr 1882 verfiel. "Grüßen Sie diese Russin von mir", schreibt der Meisterdenker an seinen Freund Paul Rée: "Ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja, ich gehe nächstens auf Raub darnach aus." Ein Raubzug, der auf tragikomische Weise im Sand verläuft: Lou von Salomé fühlt sich erotisch mehr zu Nietzsches Freund Rée hingezogen als zum schnauzbärtigen Genius. Eine hochkomplexe, vorzugsweise in Briefen ausgelebte Menage à trois nimmt ihren Lauf. Der notorische Schüchterling Nietzsche läßt gar sich zu einem Heiratsantrag hinreißen – sein Eheansuchen wird von Lou allerdings abschlägig beschieden.

Man kann schwelgerisch schmökern in Nietzsches Korrespondenzen – von vorne bin hinten durchackern wird die 3500 Seiten wohl nur der wissenschaftlich Forschende. Die Wirkung dieser Briefe: Sie entmythifizieren einen Mann, den eine nicht nur faschistische Rezeption immer wieder zum philosophischen Herrenmenschen emporgemendelt hat. Das geht nun nicht mehr: Im Gegensatz zum Nietzsche-Mythos vom tragischen Einsamkeits-Genie tritt uns in diesen Briefen auch ein zu Freundschaft und Geselligkeit begabter Mensch entgegen – ein Philosoph wird vom Kopf auf die Füße gestellt.
 

Buchhinweis:
Friedrich Nietzsche: SÄMTLICHE BRIEFE
Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, de Gruyter/dtv (2003), 3458 Seiten, ISBN: 3423590637.



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