Suche:
zurück zur Übersicht
Toni Morrison: LIEBE
Roman, Rowohlt Verlag (2004), 256 Seiten, ISBN: 349804494X

Toni Morrison: Liebe

Roman aus dem Englischen von Thomas Piltz
Rezension von Günter Kaindlstorfer


Herrgott, was war da früher mal los in Bill Coseys Strandhotel. Nach der Weltwirtschaftskrise wollten auch die betuchteren Schwarzen an der Ostküste ihren Spaß haben, und den fanden sie bei Cosey im Seebad "Up Beach". Der umtriebige Hotelier achtete persönlich darauf, daß die distinguierte schwarze Kundschaft sich wohl fühlte in seinem Haus, daß kein Gäste-Wunsch unerfüllt blieb.

Toni Morrisons Roman "Liebe" spielt auf mehreren Zeitebenen, in den dreißiger Jahren, in den neunziger Jahren, und in den bewegten Zeitläuften dazwischen. Mitte der Neunziger jedenfalls ist vom alten Glanz des Hotels nichts mehr übrig. Bill Cosey, der charismatische Herbergsvater, ist längst tot, das Hotel steht windschief und verlassen am verdreckten Strand. Cosey hat nichts hinterlassen als eine Bruchbude und eine tödlich zerstrittene Verwandtschaft, die sich des Erbes wegen in die Haare geraten ist. Da sind vor allem seine Frau Heed und seine Enkeltochter Christine, in ihrer Kindheit dicke Freundinnen, heute längst betagte Damen, die sich – tempora mutantur – aus tiefster Seele heraus hassen. Wie in einem Thomas-Bernhard-Stück hausen die beiden seit Jahrzehnten in derselben Villa, um sich das Leben gegenseitig zur Hölle zu machen.

Die Haßgeschichte zwischen den beiden Ex-Freundinnen ist das energetische Kraftzentrum in Toni Morrisons Roman. Von hier aus entwickelt sich ein weitverzweigter Plot mit vielen Haupt- und zahlreichen Nebenlinien. Es ist nicht immer einfach, in diesem Buch den Überblick zu behalten. Der Text ist aufgebaut wie eines der komplizierten Kreuzworträtsel in der "New York Times" oder der Hamburger "Zeit": eine Herausforderung für Freunde kniffliger Denksportaufgaben. Zum einen treten auf knapp 280 Seiten viele, fast zu viele Figuren auf, die alle irgendwie miteinander zu tun haben, nur weiß man die längste Zeit über nicht, wie. Neben Heed und Christine sind da noch die Kleptomanin May, Christines Mutter, sowie Junior, eine durchtriebene junge Frau von achtzehn Jahren, und die geheimnisvolle Erzählerin L. Sie alle kreisen wie Planeten um die Sonne Bill Cosey, den Toten, den großen Abwesenden.

Wie alle anderen Romane Toni Morrisons spielt auch dieser unter den Angehörigen der schwarzen Minderheit in den Vereinigten Staaten. Morrison hat immer wieder betont, daß sie sich nicht nur von Faulkner und Virginia Woolf hat beeinflussen lassen, sondern vor allem auch von der mündlichen Überlieferung der Schwarzen in den USA, von den Traditionen der Oral History. Da scheint es nur folgerichtig, daß auch im jüngsten Morrison-Roman ein Chor von Stimmen nebeneinander und durcheinander spricht, ein furioses Wechselspiel von Rede und Gegenrede wird da inszeniert, ein polyphones Textgespinst von eindrucksvoller Komplexität.

Keine leichte Kost, wie gesagt: Thematisch geht es um jahrzehntealte Lügen, um einen verschwundenen Erbschein und das verteufelte Mixtum compositum aus Liebe und Haß, das die zentralen Figuren des Romans fast schicksalhaft aneinanderschmiedet. Der Titel "Liebe", scheint\'s, läßt sich nur ironisch verstehen. Einmal mehr geht es in Morrisons Roman um die "Unerbittlichkeit der Machtverhältnisse", um den Kampf "Mann gegen Frau, Schwarz gegen Weiß, Arm gegen Reich". Immer wieder findet die Autorin kraftvolle, poetische Bilder für die Gefühlswelt ihrer Protagonisten. Die Liebe, so schreibt sie, sei mehr als ein sentimentales Gefühl, sie sei "eine Zauberaxt, die mit einem Hieb die ganze Welt weghackt, sodaß das junge Paar allein zitternd zurückbleibt."

Es braucht Geduld, bis man das verzweigte Beziehungs-Tohuwabohu in diesem Buch einigermaßen dechiffriert hat. "Liebe" – ein Roman wie eine komplizierte Familienaufstellung. Mitunter fragt man sich während des Lesens, ob der Aufwand dafürsteht, ob der Erkenntnisgewinn am Ende die Mühsal der Lektüre lohnt, aber die Frage ist wohl falsch gestellt. Toni Morrisons Prosaarbeiten lassen sich eben nicht wegschmökern wie die belletristischen Fertigprodukte Donna Leons oder Isabelle Allendes. Gerade die virtuose Konstruktion, der raffiniert verschachtelter Aufbau des Romans, seine nicht-lineare Struktur, macht seinen größten Reiz aus. "Liebe" ist kein gschmackiges Leseleckerli für zwischendurch. Toni Morrison hat ein Buch vorgelegt, das sich ästhetisch und kompositionstechnisch auf der Höhe der Zeit bewegt.


Buchhinweis:
Toni Morrison: LIEBE
Roman, Rowohlt Verlag (2004), 256 Seiten, ISBN: 349804494X.



zurück nach oben