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"Ich habe etwas Wurzelsepphaftes an mir"

CHRISTOPH RANSMAYR über Reinhold Messner, seine oberösterreichischen Roots, die Liebe zur Astronomie und seinen Roman "Der fliegende Berg". Von Günter Kaindlstorfer.

 

Sie verlegen Ihren Hauptwohnsitz nach Wien zurück. Werden Sie Ihre Zelte in Irland ganz abbrechen?

RANSMAYR: Um Himmels Willen, nein. Der Mietvertrag für mein Haus in West Cork bleibt aufrecht. Ich werde mich dort bloß von einem "resident" wieder in einen Sommerfrischler und Touristen verwandeln.

Was zieht Sie zurück nach Wien?

RANSMAYR: Ich komme vor allem nach Wien zurück, weil meine Frau Judith, die ich im Mai 2006 geheiratet habe, in dieser Stadt lebt und ich ihr so nahe wie möglich sein möchte. Abgesehen davon hat sich Wien zu seinem Vorteil verändert. Wenn man hier lebt, merkt man's vielleicht nicht; einem immer wiederkehrenden Touristen fällt es auf.

Die vielen Wahlplakate? Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die sehen?

RANSMAYR: Vor diesen monströsen Visagen in solcher Massierung, gerahmt von Sprüchen, die an Blödheit nicht zu überbieten sind, drängt sich natürlich die klassische Frage Bruce Chatwins auf: What am I doing here? Aber im europäischen oder gar globalen Zusammenhang erscheinen die österreichischen Grenzwerte gar nicht so übel: Vor dem Hintergrund des bürgerlich-sozialdemokratischen Durchschnitts stehen 10 bis 15 Prozent Rechtsradikale einer etwa gleich starken grünen Bewegung gegenüber; Kriegs- und Bürgerkriegsgefahr sind fast ebenso gering wie die Bedrohung durch Tsunamis – und was die Volldeppenquote anbelangt, ist Österreich eben leider keine Ausnahmeerscheinung sondern auch Durchschnitt.

Sie sind Mitte der 90er Jahre nach Irland gezogen – damals eines der ärmsten Länder Westeuropas. Über die Insel ist ein gewaltiger "Modernisierungsschub" hinweggeschwappt in den letzten Jahren. Manche Wirtschaftsforscher, nicht bloss neoliberale, feiern Irland als "Keltischen Tiger", der die Segnungen der europäischen Einigung geradezu beispielhaft vor Augen führt. Wie haben Sie die Veränderungen der jüngsten Zeit erlebt?
 

RANSMAYR: Ich kann schwer über Tiger und Wirtschaftswunder reden, da fehlt mir der Überblick. Ich kenne nur die Dörfer, in denen ich lebe. In "Field's Supermarkt" in Skibbereen etwa, da gab's eine Zeit, in der dort nicht einmal Orangen oder Bananen, geschweige denn Mangos oder Kiwis zu bekommen waren, jetzt bietet "Field's" alles an – von frischen Austern über Steinbutt und Seezunge aus der vergangenen Fangnacht bis zum Champagner und Rambutans aus Sumatra. Das Leben in Irland hat sich wohl ähnlich und von Landstrich zu Landstrich ganz verschieden verändert wie in Österreich. Die Banker, Kuponschneider und Spekulanten in den Städten haben dabei gewiss mehr vom Kuchen abbekommen als die Landleute oder die Schäfer draußen auf den Inseln. In den Küstendörfern West Corks gibt es allerdings immer noch Formen des Lebens, die mich an meine Kindheit in den oberösterreichischen Voralpen erinnern – Postämter, in denen man nicht nur Briefmarken, sondern auch Kernseife, Butter und Angelhaken kaufen kann, in denen über dem Schalter ein Marienbild hängt... Aber natürlich sind die modern times auch in West Cork gnadenlos und unaufhaltsam, wenn auch vielleicht ein bißchen langsamer.

Begrüßen sie das? Bedauern Sie das?

RANSMAYR: Ich wünsche den Iren natürlich, was sie sich selber und zu allen Tageszeiten als Gruß zurufen: good luck! Aber die Iren brauchen meine guten Wünsche nicht. Die Leute in meiner Nachbarschaft haben bisher immer noch Mittel und Wege gefunden, die Gegenwart so zu gestalten, daß sie das speed limit nicht überschreitet.

Kommen wir auf Ihren Roman zu sprechen. Was als erstes auffällt am "Fliegenden Berg" ist das Satzbild. Man glaubt, ein 350seitiges Langgedicht mit unterschiedlich langen Zeilen vor sich zu haben. Dabei handelt es sich um ganz normale Prosa.

RANSMAYR: Ich bin bloß zu einem uralten Schriftbild zurückgekehrt, in dem ich schon meine allererste literarische Arbeit vor fast dreißig Jahren geschrieben habe – auch wenn sie dann im sogenannten Blocksatz, also als eine Art Backblech voll exakt gleich langer Zeiten gedruckt wurde. Aber der Blocksatz ist ja unter anderem bloß eine drucktechnische und ökonomische Maßnahme. Wo steht denn geschrieben, dass nur Lyrik im Flattersatz, also in Strophen aus verschieden langen Zeilen, erscheinen darf? Mein "fliegender" Satz entspricht sowohl meinem Erzählrhythmus als auch meiner Vorstellung von Lesevergnügen viel eher. Und was für mich vergnüglich und erleichternd ist, das mute ich natürlich auch den Leuten zu, die mir zuhören oder die meine Geschichten lesen wollen.

Verstehe ich Sie richtig: Sie wollen Ihren Lesern die Lektüre leichter machen, nicht schwerer?

RANSMAYR: Was wäre das für ein Erzähler, der seine Geschichten für die Leser oder Zuhörer zu einem Hindernislauf machen wollte? Ganz gewiß: Der fliegende Satz soll eine Leseerleichterung sein.

Sie erzählen die Geschichte zweier Brüder, die von der Südwestküste Irlands aus aufbrechen, um einen sagenumwobenen Siebentausender in Tibet zu besteigen, den "Phur-Ri" im "Lande Kham". Auf Landkarten sucht man diesen Berg vergebens...

RANSMAYR: Kein Wunder, den "Phur-Ri" im osttibetischen Kham habe ich erfunden. Der Name bedeutet nichts anderes als eben "Fliegender Berg". Die Sache hat durchaus einen realen Hintergrund: Im Transhimalaya – und in allen Gebirgen – kann durchaus der Eindruck entstehen, dass Berge fliegen können: Wenn etwa ein eisbedeckter Gipfel über die Wolkendecke ragt, während der horizontale Blick in die Ferne sich im blauen Dunst verliert, sieht das manchmal tatsächlich so aus, als ob selbst die ungeheuerlichsten Berge – schweben würden; sehr eindrucksvoll.

In den 90er Jahren haben Sie mit Reinhold Messner die eine oder andere Tour durch Tibet unternommen. Haben Sie sich da Anregungen geholt?

RANSMAYR: Ich bin mit Reinhold Messner seit vielen Jahren befreundet. Wir haben zahlreiche Reisen unternommen miteinander, nach Nepal, Nordindien, Indochina, in den Jemen, auch nach Tibet. Mitte der 90er Jahre sind wir von Chengdu in der Provinz Sichuan nach Lhasa teils in Last- und Geländewagen gefahren, teils mit Yaknomanden gewandert; damals ist mir die Geschichte vom "fliegenden Berg" zum ersten Mal begegnet. Die Khampas glauben, dass auch das Schwerste, Mächtigste, Unbeweglichste, das unsereins sich vorstellen kann, nämlich die Berge des Himalaya, sich irgendwann in die Lüfte erheben und davonfliegen werden – auf dem gleichen Weg, auf dem sie in mythischer Vorzeit von den Sternen auf die Erde herabgeschwebt sind. Das ist eine Vorstellung, die mich begeistert: die Verbindung des Schwersten und Massivsten mit dem Allerleichtesten.

Im Zentrum Ihres Romans steht ein "Bergsteigerdrama", wenn ich das so nennen darf: Zwei Brüder besteigen den "Phur-Ri" im Land Kham, einer der beiden kommt auf der gefahrvollen Tour ums Leben. Dabei denkt man unwillkürlich an Reinhold und Günther Messner... Reinholds Bruder ist ja 1970 auf dem Nanga Parbat tödlich verunglückt.

RANSMAYR: Ich habe kein Buch über die Messner-Brüder geschrieben. Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, der ein solches Buch schreiben kann, und das ist Reinhold Messner selbst. Mir ging es um etwas anderes, um eine archetypische Brudergeschichte, wenn Sie so wollen. Brudergeschichten faszinieren mich, seit ich vom Pfarrer meines Heimatdorfes in Roitham bei Gmunden zum ersten Mal die Geschichte von Kain und Abel gehört habe. Ich war geschockt von der Tatsache, daß die Rivalität zwischen Brüdern so weit gehen kann, dass sie einander töten. Und dazu Kains wahnwitzig freche Gegenfrage auf Jahwes Erkundigung nach dem Verbleib Abels: "Bin ich der Hüter meines Bruders?" Diese Frage rührt natürlich immer auch an den Gedanken, ob wir denn verantwortlich sind für Menschen, die wir unsere Brüder nennen oder die tatsächlich unsere Brüder sind. Nicht nur die Geschichte der Bürgerkriege – etwa des irischen "Bruderkriegs" – auch die Entdeckungsgeschichte ist voller Tragödien von Brüdern, die zu irgendeinem Ziel, einem geographischen oder politisch utopischen Ziel, aufbrechen und nur einer von beiden kehrt lebend zurück.

Ihr Buch ist auch ein Tibet-Roman. Nun ist ja Tibet seit geraumer Zeit im Westen ziemlich "in"...

RANSMAYR: Wenn einer jahrelang an seinen Büchern arbeitet wie ich, kann er sich nicht darum kümmern, was gerade "in" und was "out" ist. Tibet hat Generationen von Bergsteigern, Fußwanderern und Abenteurern angezogen, die sich irgendwann auf den Weg gemacht und mit mehr oder weniger bewegenden Geschichten, Vermessungsergebnissen – oder Lügen wieder von dort zurückgekehrt sind. Tibet ist in gewisser Weise zu einer Chiffre geworden, die ein Land bezeichnet, das nicht nur dicht unterm Himmel, sondern auch scheinbar weit, weit weg von den Zwängen unserer Gegenwart liegen soll. Die Realität sieht allerdings anders aus: Tibet ist besetztes Gebiet, und alles, was sich über die globalisierte Gegenwart sagen läßt, über ökonomische, technologische und militärische Zwänge, läßt sich auch am Beispiel Tibets darstellen. Der Einbruch der Gegenwart in archaische, von Mythen bestimmte Gesellschaften, wird gerade am Beispiel tibetischer Clans sehr deutlich.

Ausserdem ist "Tibet" ein Sammelname für ein Land von ungeheurer Ausdehnung

RANSMAYR: Für das, was wir "Tibet" nennen, gibt es viele, zum Teil sehr widersprüchliche Namen. Auch die tibetische Landschaft, ist ja alles andere als einheitlich. Zwischen den zentraltibetischen Hochebenen und den Wüsten im Nordwesten bis hin zu den osttibetischen, manchmal sehr idyllischen, geradezu steirischen! Landschaften gibt es dramatische Unterschiede, die sich fortsetzen in den Kulturen, den Völkern, den Clans, die in diesen Landschaften leben. Tibet ist ein Etikett, das alles Mögliche überklebt, natürlich auch die Sehnsucht nach "östlicher Spiritualität", nach "unberührten Natur", da spielen viele Projektionen mit. Von "Tibet" zu reden ist in ähnlicher Weise problematisch wie von "Europa". Aber ich habe in meinem Roman ja auch nicht "Tibet" gesagt, sondern "Kham". Ich spreche also von einem ganz bestimmten Land, einer ganz bestimmten Region im tibetischen Osten.

Sie sind ein begeisterter Bergsteiger, wie man hört...

RANSMAYR: Ich bevorzuge das Wort "Tourist". Ich bin eher ein Bergwanderer als Bergsteiger.

Trotzdem: Sie haben mit Reinhold Messner den Transhimalaya erkundet, Sie sind mit Claus Peymann in den oberösterreichischen Kalkalpen herumgekraxelt. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Bergen beschreiben?

RANSMAYR: Aus dem Fenster meines Kinderzimmers in Roitham bei Gmunden – mein jüngerer Bruder Stefan und ich mußten uns dieses Zimmer teilen – stellten die Berge eine Art Mauer dar, sie begrenzten die Aussicht und waren zugleich Sehnsuchtspunkt: auf diese Berge haben nicht nur unsere sonntäglichen Familien-Ausflüge geführt, sondern auch meine persönlichen Phantasie-Ausflüge. Und bis heute fasziniert mich, daß, wer einen Berg besteigt, in gewisser Weise auch eine Zeitreise in die Vergangenheit unternimmt. Je höher er kommt, umso weiter zurück gerät er in die Menschheitsgeschichte: aus den zivilisierten Tälern hinauf in Regionen, die sich dem Wanderer heute nicht anders präsentieren als einem neolithischen Jäger vor Tausenden Jahren.

Wenn man einen Fünf- oder Sechstausender in Tibet besteigt, findet man da etwas anderes vor als auf dem Traunstein?

RANSMAYR: Die Landschaften unterscheiden sich natürlich stark voneinander, aber irgendwann kommt einer, der im Toten Gebirge oder in den niederösterreichischen Alpen unterwegs ist, auch durch Tibet – in dem Sinn, dass er an Landschaften streift, die verwandt oder ähnlich scheinen.

Sie haben für sich immer den Status eines Nomaden oder sagen wir: eines "Halbnomaden" beansprucht. Wird sich daran etwas ändern? Schliesslich sind Sie jetzt in den Hafen der Ehe eingefahren, wie man so schön sagt.

RANSMAYR: Ich bin Tourist, verheiratet, kinderlos, ich bin neugierig und liebe das Reisen. Das wird sich – hoffentlich – nicht so schnell ändern. Aber es gibt einen gewissen Hang, die uralten, die altvertrauten Stätten wieder aufzusuchen, etwa im Salzkammergut, der Gegend, aus der ich komme, in der ich aufgewachsen bin.

Sie entdecken Ihre alpinen Wurzeln, Ihre österreichischen "Roots"?

RANSMAYR: Österreicher zu sein, ist ja kein Programm. Aber es wäre kindisch zu sagen: Ich bin der reine Kosmopolit. Jeder, der mich reden hört, wird allein schon aus meinem Tonfall das Oberösterreichische heraushören. Und wenn Sie mich anschauen, werden Sie auch feststellen, daß ich etwas Wurzelsepphaftes an mir habe. Also, ich kann gar nicht verleugnen, daß ich ein oberösterreichischer Dörfler bin - und ich will es auch nicht.

Wenn Sie in der Welt herumkommen, so vermute ich, sprechen Sie vorwiegend Englisch. Mit oberösterreichischem Akzent?

RANSMAYR: Und wie! Für meine irischen Freunde klingt das gelegentlich sehr komisch.

Einige Wochen im Jahr bewohnen Sie eine Almhütte in der Nähe des Traunsees. Da sind Sie als Astronom zugange...

RANSMAYR: Ich bin ein reiner Sonntags-Astronom. Ich forsche ja nicht, sondern versuche mit meinen Spiegelteleskopen und Refraktoren lediglich etwas nachzuvollziehen, auf visuelle Weise, was in der Astronomie zum kleinen Einmaleins gehört. Verschiedene Dinge, die in der Astronomie längst bekannt und bewiesen sind, tatsächlich auf der Netzhaut zu haben, über die Okulare, über das Teleskop, das ist ein wunderbares Vergnügen. Dem gebe ich mich gerne hin, ob es sich nun um den Lauf der Planeten handelt, um die Jupitermonde oder um extragalaktische Nebel...

Die "Internationale Astronomische Union" hat Pluto soeben den Planetenstatus aberkannt. Eine Entscheidung, die Ihre Zustimmung findet?

RANSMAYR: Das war überfällig und ist nur der Vollzug einer Entscheidung, die längst notwendig gewesen wäre. Pluto in den 30er Jahren überhaupt als Planeten einzustufen, hatte mehr mit Entdecker-Ehrgeiz zu tun als mit realen Entsprechungen. Ich bin ganz zufrieden mit dem aktuellen Ergebnis: Als Planet war Pluto eine armselige Erscheinung. Im Kreis der Asteroiden ist er endlich ein "Star".

ERSCHIENEN in "Falter", 27. September 2006



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Christoph Ransmayr
Christoph Ransmayr: DER FLIEGENDE BERG
Fischer Verlag (2006), 344 Seiten, ISBN: 3100629361.