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G. Kaindlstorfer und G. Grass

"Ach, lassen wir die Kritiker!"

GÜNTER GRASS über die Verrisse seines Buchs "Mein Jahrhundert", seine Liebe zu Grimmelshausen und das Demagogische an Jörg Haider. Von Günter Kaindlstorfer.

Herr Grass, seit Sie Bücher schreiben, werden diese Bücher verrissen. Unterhalten Sie sich überhaupt noch mit Literaturkritikern?

Günter Grass: Aber natürlich, ich muß Ihnen nur gleich widersprechen. Meine Bücher sind immer auch gelobt worden, nicht nur verrissen. Sie waren von Anfang an umstritten. Ich stelle allerdings fest, daß sich das Niveau der Kritik in den letzten Jahren erheblich verschlechtert hat.

Inwiefern?

Günter Grass: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als "Die Blechtrommel" 1959 erschien, hat sie der Kritiker Günter Blöcker in der FAZ auf wüste Weise verrissen. Wenn ich die Kritik von damals nachlese, dann merke ich: Der Mann hatte das Buch wenigstens gelesen. Das ist heute nicht mehr so selbstverständlich. Heute wird flüchtig drüber weggelesen, da geht's nur mehr darum, wer ist als erster dran mit seiner Rezension, wer bringt den originellsten Verriß, wer kann dem Autor am deftigsten eine reinbuttern, also das Niveau ist eindeutig gesunken.

Ihrer Beliebtheit beim Publikum tun Verrisse offenbar keinen Abbruch. "Mein Jahrhundert" rangiert seit Wochen auf den vorderen Rängen der Bestsellerlisten.

Günter Grass: Das erüllt mich mit Hoffnung. Die Leser bilden sich heute ihre eigene Meinung. Früher wurde eine Fernsehsendung, die sich "Literarisches Quartett" nannte, aber nur aus einer Stimme bestand, von Publikum und Handel kritiklos rezipiert.

Apropos: Haben Sie die Autobiographie von Reich-Ranicki gelesen?

Günter Grass: (schüttelt den Kopf)

Aus Prinzip nicht?

Günter Grass: Ach, wissen Sie, ich habe anderes zu lesen. Ich habe gerade Frank McCourts Roman "Die Asche meiner Mutter" gelesen. Wunderbares Buch. Die Mischung aus Tragischem und Komischem finde ich hinreißend.

Bei "Mein Jahrhundert" hat man den Eindruck, Sie haben so etwas wie ein deutsches Hausbuch schreiben wollen.

Günter Grass: Die Tradition der Hausbücher reicht bis zu Grimmelshausen und seinem "Ewigwährenden Kalender" zurück, oder auch zu Hebel und Brecht. Mir ging es in der Tat darum, diese Tradition aufzugreifen.

Auch dafür sind Sie gescholten worden.

Günter Grass: Ach, lassen wir die Kritiker beiseite. Die fordern in letzter Zeit immer öfter, daß wir uns an amerikanischen Vorbildern orientieren sollen. Ich lehne das ab. Wir haben unsere eigenen Traditionen, die wunderbare Form der Kalendergeschichte zum Beispiel. Es hat keinen Sinn, daß wir bei der amerikanischen Short-Story anknüpfen, es gibt in der deutschen Literatur weiß Gott andere Vorbilder.

In IHREN Kalendergeschichten werfen Sie einen subjektiven Blick auf das 20. Jahrhundert...

Günter Grass: Subjektiver Blick – diesen Ausdruck würde ich nicht gebrauchen. Ich habe mich in "Mein Jahrhundert" in verschiedene Personen aufgeteilt, die jeweils aus Ihrer Sicht einen Blick auf bestimmte Ereignisse werfen, darunter auch meine schlimmsten Feinde. Das ist die Aufgabe eines Schriftstellers, sich auch in die Lage seiner Feinde versetzen zu können, wenn er das nicht kann, hat er seinen Beruf verfehlt.

Man hat den Eindruck: Sie schreiben in diesem Buch Geschichte von unten.

Günter Grass: So ist es. Ich wollte die zu Wort kommen lassen, die sonst nie zu Wort kommen, die Geschichte nicht gemacht haben, denen Geschichte widerfährt. Ein spannendes und reizvolles Unterfangen.

Sie setzen sich auch kritisch mit der deutschen Einheit auseinander. Fühlen Sie sich von den aktuellen Ereignissen bestätigt?

Günter Grass: Absolut. Als ich '89 vor einer allzu hastigen Einigung warnte, wurde ich als "Schwarzseher der Nation" angegriffen. Heute muß ich feststellen: Die Einteilung in Deutsche erster und zweiter Klasse existiert immer noch. Die Westdeutschen können sich immer noch nicht in die Mentalität von 16 Millionen Ostdeutschen einfühlen. Und die Kosten der Einheit werden uns noch lange beschäftigen. Es war ja eine Einheit auf Pump.

Wie stehen Sie zur rot-grünen Regierung? Die Performance von Schröder und Fischer bis jetzt war ja nicht wirklich berauschend.

Günter Grass: Sie werden von mir keine Polemik gegen diese Regierung hören. Ich bin Sozialdemokrat, nach wie vor. Ich habe die SPD zwar wegen ihrer Asylpolitik verlassen, aber das ändert nichts an meiner sozialdemokratischen Grundhaltung. Ich bin Sozialist, und ich bin Demokrat, nach wie vor. Ich habe mir von Rot-Grün einiges erhofft, und das tue ich weiterhin.

Daß Schröder sich mit Kaschmirmantel und Havanna-Zigarre in Pose wirft, während er gleichzeitig Sparpakete verordnet, stört Sie nicht?

Günter Grass: Schröder gibt sein Bestes. Er müßte nur aus dem Moderieren herauskommen. Er müßte erkennen, daß sein Bündnis für Arbeit am permanenten Widerstand der Großindustrie scheitert. Wir sind heute ja mit einem Neoliberalismus konfrontiert, der den Staat im Grunde abschaffen will. Ich bin da altmodisch. Wir brauchen mehr Staat, nicht weniger. Schröder müßte bereit sein, die Steuerschlupflöcher für die Reichen zu schließen und auch Aktiengewinne zu besteuern, das sind alles Dinge, die soziale Ungerechtigkeit perpetuieren. Leider geschieht nichts in der Sache.

Verfolgen Sie die politische Situation in Österreich?

Günter Grass: Selbstverständlich. Österreich ist ja nicht aus der Welt. Da hat man schon einen Blick drauf. Es hat ja einiges, was dann auch in Deutschland gewissen Konsequenzen hatte, in Österreich angefangen. Also, ein wachsamer Blick auf Ihr Land empfiehlt sich durchaus. Ich muß Ihnen etwas sagen: Ich habe vor einigen Tagen im Fernsehkanal 3sat Ihren Kardinal König sprechen hören; mich hat ungeheuer bewegt, was der alte Mann gesagt hat...

Er hat vor der allerorts grassierenden Fremdenfeindlichkeit gewarnt...

Günter Grass: ... und vor verantwortungslosen Politikern, die daraus Kapital schlagen wollen.

Beobachten Sie die Karriere des FPÖ-Politikers Haider?

Günter Grass: Ich bin heilfroh, daß wir in Deutschland keinen Haider haben. Die entsprechenden Formationen bei uns sind kopf- und führerlos, gottseidank, die verfügen nicht über einen derart talentierten Demagogen wie Haider. Denn so talentiert der Mann auch sein mag, ein Demagoge bleibt er doch.


DAS BUCH:
Günter Grass: MEIN JAHRHUNDERT
Roman, illustrierte Ausgabe, Verlag Steidl (2004), ISBN: 3882436514.



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