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Günter Grass

"Wir alle sind Kinder der Aufklärung"

GÜNTER GRASS über Botho Strauß, das Böse am Kapitalismus und seine Vernunftbeziehung zur SPD.
Von Walter Famler und Günter Kaindlstorfer.


Seit einiger Zeit sorgen die gesellschaftspolitischen Thesen Ihres Kollegen Botho Strauß für wildentschlossene Abgrenzungen in den Feuilletons. Wie sind denn Ihre Ansichten zu den Ideen von Herrn Strauß?

Grass: Ich finde diese Debatte insgesamt übertrieben. Der inkriminierte "Spiegel"-Artikel ist weder faschistisch noch kryptofaschistisch noch sonst irgendwas, all diese Betitelungen gefallen mir nicht. Ich habe ihn stilistisch verblasen gefunden, es ist sehr viel Gefühliges dabei, es ist ein Text, der mir schon längst aus der Erinnerung entschwunden wäre nach einmaligem Lesen, wenn es nicht diese hirnstussige Ersatzdebatte darüber gegeben hätte. Und das trifft auf manches zu, was sich aufgeregt gab in den deutschen Feuilletons. Was ist etwa von diesen wirklich bodenlosen, auf kein Argument sich stützenden Angriffen auf Christa Wolf übriggeblieben? Genau betrachtet waren es oft dieselben Leute, die Christa Wolf zuvor auf eine genauso argumentlose und bodenlose Art zur Heiligen, zur Widerstandskämpferin verklärt haben, die sie nun ins Bodenlose fallen lassen wollten. Im Grunde sind das alles Scheindebatten, Ausflüchte. Ganz gewiß gibt es Anzeichen, und das trifft auch auf Botho Strauß zu, daß die 68er-Generation es sich in vielen Bereichen zu leicht macht. Gut, ich kann verstehen, daß Adorno für Botho Strauß und andere ein belastender Übervater gewesen ist, aber daß man mit der Distanzierung von Adorno auch gleich die gesamte Tradition der europäischen Aufklärung über Bord schmeißen muß, ist ein äußerst luxuriöses Verhalten, für das ich keinerlei Verständnis aufbringe, denn wir alle sind, ob wir's wollen oder nicht, Kinder dieser Aufklärung und geprägt von ihr und verdanken ihr auch unseren mehr oder weniger großen Grad von Zivilisierung. Und wenn wir darauf verzichten, steht uns die Barbarei ins Haus. Dafür gibt es Anzeichen.

Man hat, was diese Botho-Strauß-Debatte betrifft, den Eindruck, daß hier mit schwerer Artillerie auf Mäuse geschossen wird. Botho Strauß vertritt konservative Ansichten, so weit, so gut, das ist doch nichts Schlimmes. Warum sind die Deutschen denn nicht froh, daß es außer Ernst Jünger noch einen, einen einzigen intellektuellen Reaktionär im Lande gibt? Ist es nicht legitim, daß Botho Strauß denkt, wie er denkt? Man sollte den Mann doch unter Naturschutz stellen.

Grass: Ja, legitim ist es auf jeden Fall, daß Herr Strauß so denkt, wie er denkt. Wenn wir Toleranz als ein Ergebnis aufklärerischer Entwicklung betrachten, dann muß man auch diesen Blödsinn tolerieren. Das heißt allerdings nicht, daß ich damit einverstanden bin.

Wie ist Ihre Haltung zu Wolf Biermann? Wie kommentieren Sie seinen Angriff auf Monika Maron?

Grass: Mich stimmt der Verfall eines so großen Talentes traurig. Biermann ist nicht zu bremsen, nicht aufzuhalten, für Einspruch nicht zugänglich. Es gab Zeiten, in denen er noch in Ostberlin lebte, und da habe ich ihn gelegentlich besucht. Die ein, zwei Mal, als er in den Westen reisen konnte, um seine Oma in Hamburg zu besuchen, da machte er Halt in Westberlin. Es gab Gespräche, soweit man halt mit Biermann, mit einem Egozentriker wie ihm, Gespräche führen kann. Aber diese Art von Hybris, die aus den Texten der letzten Jahre spricht, die war damals nicht zu erkennen, weil er als Künstler selbst viel zu vital und schöpferisch war. Das hat sich bei ihm verändert. Und indem er andere Schriftsteller zu demontieren versucht, demontiert er sich selber. Das ist ein trauriger Vorgang.

Es sieht so aus, als ob die soziale Frage ein Comeback erlebt nach den hedonistischen, nach den flotten, nach den postmodernen achtziger Jahren. Sehen Sie das auch so?

Grass: Ja, ich sehe es ähnlich. Die Zeitgeistmoden waren eben nichts als Zeitgeistmoden. Nach der großen Wende von 1989 erleben wir heute, wie die westliche Wirtschaft überall aus den Fugen gerät. Der Kapitalismus ist ja in einer Vielzahl von westeuropäischen Staaten im Verlauf der Jahrzehnte mehr oder weniger zivilisiert worden. Das war so dieser Anspruch sozialer Marktwirtschaft, der in den skandinavischen Ländern, in Österreich, in Deutschland zum Teil eingelöst war. Und damit ist es jetzt vorbei. Der Kapitalismus ist außer Rand und Band geraten und zeigt seine eigentliche Raubtiernatur. Alles, was gebändigt und zivilisiert an ihm war, oder auch nur an der Oberfläche zivilisiert war, fällt weg, und es kommt diese Ellbogenmentalität des Manchester-Liberalismus zum Vorschein.

Jetzt tragen Sie aber dick auf!

Grass: Überhaupt nicht! Ein Wirtschaftsminister wie Rexrodt, der so flott seine Standortfragen in die Debatte wirft, argumentiert eigentlich aus der Sicht des neunzehnten Jahrhunderts, aus der Sicht des Manchester-Liberalismus. Sehen Sie sich nur einmal um: Überall in Europa wird das soziale Netz zerstört.

Viereinhalb Millionen Arbeitslose in Deutschland, Rentenkürzungen und Sozialabbau in Österreich und anderen Ländern. Wie sehen Sie die Zukunft des Kapitalismus in Europa?

Grass: Wir können im westlichen System mittlerweile ähnliche Symptome der Reformunfähigkeit erkennen wie im Staatskommunismus nach 1968, nachdem man in der Tschechoslowakei den letzten ernsthaften Reformversuch mit Panzern niedergewalzt hat. Im Westen sieht es heute so ähnlich aus: Die Fehler sind erkannt, in allen möglichen Bereichen, bis in den ökologischen Bereich. Die Kongresse zu den interessanten Themen finden statt, kosten ein Wahnsinnsgeld, aber: außer Spesen nichts gewesen. Es bewegt sich nichts, oder so gut wie gar nichts, jedenfalls nicht im Vergleich zu dem, was an Schäden, an nachweisbaren Schäden, jetzt schon da ist. Und das sind Beweise von Reformunfähigkeit und auch eines inneren Niedergangs des kapitalistischen Systems.

Wo sehen Sie diesen Niedergang sonst noch?

Grass: Ich will versuchen, es an zwei Beispielen deutlich zu machen. Bei den Kommunisten konnte man ihren Niedergang daran erkennen, daß sie an ihre eigenen Propagandalügen glaubten, das ist offenbar mittlerweile auch im Westen der Fall. Es wird einfach zum Beispiel Markt als ideologische These auch dort behauptet, wo gar kein Markt mehr ist, wo die Konkurrenz längst ausgeschaltet ist, wo ein, zwei, drei Medienriesen oder Kaufhausketten oder Hotelketten den Markt beherrschen, die Preisabsprache stattgefunden hat, also eine Marktwirtschaft sich gar nicht mehr entwickeln kann. Das andere ist, daß der herkömmliche Kapitalismus auch in seiner vitalsten Form seine Erfolge darauf zurückführen konnte, daß er immer bereit war, Gewinn zu investieren. Und das hat erheblich nachgelassen oder stagniert völlig. Die Gewinne werden irgendwo, sei es über Geldwaschanlagen, sei es direkt im Ausland in Sicherheit gebracht. Nur noch Profitmaximierung steht im Vordergrund, kein Investment. Und das sind eigentlich deutliche Zeichen eines Niedergangs und eines Zusammenfalls auch des kapitalistischen Systems. Da Marx den Kapitalismus und den Sozialismus seiner Prägung immer als eine Art Zwillingspaar gesehen hat – das eine bedingt das andere – könnte er auf fatale Weise recht behalten. Das Absterben des einen Zwillings, nämlich des staatlichen Sozialismus auf der einen Seite, wird unter Umständen dieses kapitalistische System auch zum Absterben bringen. Was dann danach kommt, das wissen wir nicht, das kann man in der einen oder anderen Form nur befürchten.

Die Linke hat lange Zeit auf eine radikale Alternative zum Kapitalismus gehofft, hat eine sozialistische, vielleicht auch planwirtschaftliche Wirtschaftsweise konzipiert. Ist dieser Glaube heute noch aufrechtzuerhalten?

Grass: Also, ich habe nie an Planwirtschaft geglaubt. Ich war immer der Meinung, daß es soziale Marktwirtschaft geben sollte, und daß in dieser sozialen Marktwirtschaft durch bestimmte planerische Vorgänge zu leisten ist, was geleistet werden muß. Das beste Beispiel innerhalb der deutschen Sozialdemokratie war die Art und Weise, wie Karl Schiller die Wirtschaftskrise der sechziger Jahre behoben hat: mit einer Mischung aus sozialer Marktwirtschaft und planerischen Maßnahmen.

Auch Franklin D. Roosevelt hat so gehandelt. Ein Mann nach Ihrem Geschmack?

Grass: Man könnte den westlichen Kapitalisten noch so manchen Staatsmann aus ihrem eigenen Lager ans Herz legen. Auch Wirtschaftstheoretiker wie Fulbright. Alle diese Leute haben gewußt, daß man gewisse Dinge aus der Marktwirtschaft herausheben, daß man in bestimmten Bereichen einfach regulierend eingreifen muß.

Reden wir über Literatur. Sie haben kürzlich gesagt, die Aufgabe des Schriftstellers sei es, auf Seiten der Verlierer zu stehen. Sehen Sie den Schriftsteller als eine Art Widerstandskämpfer?

Grass: Dieses große Wort würde ich für mich nicht in Anspruch nehmen. Widerstandskampf setzt ja nur da ein, wo wirkliche Macht überwunden werden muß, wo auch der Konflikt im Sinne von Widerstand offen erklärt wird und alle anderen Wege der Konfliktlösung, zum Beispiel die parlamentarischen Wege, versperrt sind. In einer solchen Situation befinden wir uns nicht oder noch nicht. Aber es gibt Bereiche, in denen, ohne daß ich das Wort "Widerstandskämpfer" bemühen möchte Widerstand vonnöten ist. Wenn zum Beispiel in der Bundesrepublik, nachdem man den Asylparagraphen verunstaltet hat, über viertausend Menschen, ohne daß sie irgendetwas Kriminelles getan haben, in Abschiebehaft sitzen, dann ist Widerstand geboten. Und dieser Widerstand gegen das Gesetz wird erstaunlicherweise auch von einigen katholischen Priestern angeboten, indem sie die Kirche als Asyl anbieten. Das sind neue Formen des Widerstands, die sich entwickeln. Andere gibt es im ökologischen Bereich. Aber das Wort Widerstandskämpfer ist natürlich zu Recht besetzt von Leuten, die Kopf und Kragen riskiert haben und oft daran auch zugrunde gegangen sind, indem sie gegen die Staatsmacht, die keinen anderen Weg der Auseinandersetzung mehr zuließ, Widerstand geleistet haben. Sei es gegen das faschistische System in dieser und jener Form, sei es gegen das geschlossene Gesellschaftssystem dessen, was sich Kommunismus genannt hat.

Lassen Sie uns eine andere Formulierung versuchen: Ist es Aufgabe des Schriftstellers, ganz in seiner Zeit zu leben und, wie Sartre gefordert hat, sich ganz auf die Kämpfe dieser Zeit einzulassen?

Grass: Ich käme nie auf die Idee, "die Aufgabe des Schriftstellers" auf einen Nenner zu bringen. Für mich hat es sich so ergeben, auch vielleicht für einige Kollegen meiner Generation, daß wir als Neunzehn-, Zwanzig-, Einundzwanzigjährige eine Menge artistisch-ästhetische Optionen hatten, aber nach relativ kurzer Zeit merken konnten, daß unserer Generation die Themen diktiert waren. Denen konnte man nicht ausweichen. Also, bei mir bestand nie die Gefahr, daß ich mich in Nur-Ästhetischem hätte verlieren können. Das war anfangs gewiß der Fall mit einigen Theaterszenen, die ins absurde Theater gingen, mit Gedichten spielerischer Art, aber dann die "Blechtrommel" war schon ein Stück Gegengewicht, und das hat sich eigentlich bis heute so fortgesetzt. In anderen Ländern stellen sich diese Probleme heute anders. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte in einem Land leben mit einer weniger aufregenden Geschichte, mit weniger nachwirkenden Verletzungen, sodaß man unbeschwerter sich die Themen wählen könnte.

Wo würden Sie denn gerne leben?

Grass: Das ist eigentlich im Grunde eine rhetorische Frage, die ich mir da stelle. Ich bin schon mit dem, ich will nicht sagen zufrieden, aber einverstanden, was mir als Thema vorgegeben ist, und was ja auch bis zum letzten Roman immer wieder zu neuen Infragestellungen führt. Diese deutschen Geschichten sind noch lange nicht abgeschlossen.

Sie sagen, bei Ihnen war die Gefahr, sich im Ästhetischen zu verlieren, nicht so groß. Haben Sie den Eindruck, daß diese Gefahr für die Generation der Schreibenden heute, insbesondere im deutschen Sprachraum, größer ist?

Grass: Ja, es sieht zumindest im Westen so aus. Eine narzißtische Art des Schreibens, der Selbstbetrachtung, der Selbstauswertung, der Selbstspiegelung oft auf interessante Art und Weise, hat gewiß zugenommen. Das wird sich aber, das ist meine Vermutung, dafür gibt es auch schon erste Anzeichen, zumindest im Ostteil Deutschlands ändern. Dort ist mittlerweile eine junge Generation von Autoren herangewachsen, die zum Zeitpunkt, als die Mauer fiel, siebzehn, achtzehn bis fünfundzwanzig Jahre alt war. Im Vergleich zu meiner Generation, ich war bei Kriegsende siebzehn, alt genug, um zu begreifen, welches System da untergegangen ist, aber auch jung genug, um von dem untergegangenen System nicht so vereinnahmt, nicht so gezeichnet gewesen zu sein wie die älteren. Und aus dieser Generation oder Halbgeneration wird einiges kommen und zu erwarten sein.

Weil Untergänge gute Zeiten sind für Schriftsteller?

Grass: Natürlich, Verlust ist immer eine großartige Voraussetzung für Literatur, weil nur Literatur Verlorenes, in meinem Fall zum Beispiel diese ganze Ostseewelt um Danzig herum, dieses Zusammenleben von Deutschen, Polen, Kaschuben und Juden rekonstruieren kann. Die Literatur hat Möglichkeiten, so etwas ins Bild zu fassen. Was wüßten wir von Österreichs k.-und-k.-Zeit ohne Josef Roth, was wüßten wir vom Dreißigjährigen Krieg ohne Grimmelshausen, trotz der Bibliotheken von historischer Literatur. Und jeweils ist es der Blick von unten, der uns fesselt, es ist nicht der Blick des Siegers, es ist nicht der Blick des Herrschenden. Das wäre auch kein angenehmer Sitzplatz für Schriftsteller, oder wenn er angenehm wäre, wäre er zu angenehm und erlaubte eben nicht diese Einsicht, diesen Blick von unten in die Geschichte hinein.

Es gibt auch Gegenbeispiele. Montaigne war zu seiner Zeit sicher ein Machthaber und trotzdem ein scharfsichtiger Mann und Beobachter.

Grass: Na gut, ein Machthaber – er war Bürgermeister von Bordeaux, Bürgermeister in einer schwierigen Zeit, und er hat für eine kurze Zeit, mit gutem Ergebnis übrigens, den jungen Henri IV. beraten. Also, man kann sagen, daß dies spätere Toleranzedikt von Henri IV. auf Montaignes Einfluß zurückgeht, sicher auch die innerliche Neigung, den Calvinisten zuzuhören, aber dennoch Katholik zu bleiben, weil beiden auf unterschiedliche Art und Weise bewußt war, was der Bruch mit der katholischen Kirche für eine Konsequenz gehabt hatte, nämlich Kriege, endlose Kriege. Sie setzten also auf das, was man innere Reformen genannt hat, mit mehr oder weniger viel Erfolg, eigentlich mit weniger Erfolg auf die Dauer gesehen. Aber die Essays von Montaigne sind sicher aus der Sicht eines Landedelmannes geschrieben, sie beruhen auf eigenen Erfahrungen und auf der Auseinandersetzung mit seiner Zeit, auch mit dem Aberglauben seiner Zeit.


Herr Grass, Ihr jüngster Roman "Ein weites Feld" ist heftig verrissen worden. Man hatte manchmal den Eindruck, daß die Kritik hier den Literaten Günter Grass geprügelt und den politischen Menschen Günter Grass gemeint hat. Täuscht dieser Eindruck? Hat sich die Literaturkritik hier an einem Autor gerächt, der sich politisch stets prononciert geäußert hat?

Grass: Ich habe mich ja nicht nur politisch geäußert, und wenn ich das nur politisch getan habe, dann war es von der Form her abgehoben, dann war es eine Rede oder ein Aufsatz zu einem bestimmten Thema. Die Romane, die auch ihren politischen Hintergrund haben, weil sie in einer jeweils politisch mitbestimmten Gesellschaft handeln, von der "Blechtrommel" an bis zum "Weiten Feld", sind von literarischer Konzeption, sie behandeln und verhandeln gesellschaftliche Verschiebungen, Deformationen und sind damit auch politisch involviert. Aber sie sind nicht vordergründig politisch. Gerade weil es mir ja darum ging, um auf das letzte Buch zu kommen, den gegenwärtigen politischen Vorgang, den Einigungsprozeß ab Neunundachtzig in Deutschland in einen größeren Zusammenhang zu stellen, schien es mir notwendig, eine literarische Erzählform zu finden, die es mir erlaubte, das neunzehnte Jahrhundert mitzuerzählen, sodaß also die Ereignisse sich jeweils spiegeln und brechen, widersprechen, manchmal identisch sind, oder identisch zu sein scheinen, und es gibt eine Vielzahl von Stimmen in dem Buch, die sich widersprechen. Es ist nicht der Autor, der aus der einzelnen Person heraus spricht, und diese Dinge sind von einem Teil der Kritik vordergründig nur politisch beim Wort genommen worden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Grass: Nehmen wir einen Satz wie den, den Fonty, also Wuttke, äußert im Gespräch mit seiner Frau, die DDR betreffend: "Wir lebten in einer kommoden Diktatur." Der ist mir als Halbsatz oder als Satz hinterher um die Ohren geschlagen worden. Nur, das geht auf ein Fontane-Zitat zurück, das bezieht sich auf das Kaiserreich Wilhelms II., auf einen Brief Fontanes an Emilie, seine Frau, und dort klagt er beredt und zornig über die Verkommenheit des preußischen Adels, über das parvenuehafte Gebaren der Bürger, über den ewigen Reserveleutnant etcetera, alles, was ihn an seiner Zeit geärgert hat, und dann, in typisch fontanischer Art, relativiert er das Ganze und sagt: "Und trotzdem müssen wir sagen, wir leben in einer kommoden Diktatur." Und jetzt ist meine Meinung dazu, wenn man sich mit mir über diesen Satz auseinandersetzen will, wenn ich die DDR-Verhältnisse in Vergleich bringe zu den Verhältnissen, wie sie in der Sowjetunion die längste Zeit herrschten, oder in Rumänien bis zum Schluß herrschten, oder in Chile herrschten, oder im Obristen-Griechenland, dann ist die DDR eine relativ kommode Diktatur gewesen. Sie blieb eine Diktatur dadurch, aber das reicht nicht, es gibt eine Mentalität, die sich in einem Teil dieser Kritiken ausgesprochen hat, die den Sieg, den man meint errungen zu haben, noch größer sehen möchte. Also muß der am Boden liegende Gegner, der zum Teil schon verschwundene Gegner, nachträglich noch gefährlicher gemacht werden, um den eigenen Sieg zu vergrößern. Im Grunde ist das ein sehr komischer und alberner Vorgang.

Wie ist Ihr Verhältnis zu SPD? Sie sind vor drei Jahren im Zorn von der Partei geschieden, weil sie einer Verschärfung des Asylrechts zugestimmt hat. Wenn man nun Ihre Wortmeldungen in jüngster Zeit verfolgt, etwa auch Ihren Auftritt in der Nachrichtensendung "Zeit im Bild 2", wo Sie den österreichischen Sozialdemokraten ausdrücklich zu ihrem Wahlsieg "gratuliert" haben, dann könnte man fast den Eindruck gewinnen, daß Ihr Zorn verraucht ist. Gibt es da einen neuen, zarten Flirt zwischen Günter Grass und der Sozialdemokratie?

Grass: Also Flirt ganz gewiß keinen. Meine Fähigkeit zu flirten beschränkt sich auf reizvolle und geistreiche Frauen, und all diese Tugenden kann man weder den Sozialdemokraten deutscher noch österreichischer Prägung nachsagen. Wissen Sie, meine Beziehung zur SPD ist immer eine Vernunftbeziehung gewesen, von Anfang an, gegen jede Neigung. Ich bin kein geborener Sozialdemokrat, ich bin allenfalls ein gelernter Sozialdemokrat. Das kommt aus einer gewissen Grundüberzeugung heraus, aus Erfahrungen, die ich gemacht habe, die auch Deutschland insgesamt gemacht hat. Man muß der Tatsache ins Auge sehen, daß die schwache Weimarer Republik – ähnliches kann man übrigens von der Ersten Republik Österreichs sagen – zerstört worden ist von den Rechtsextremen, aber auch von den Linksextremen, von den Kommunisten, die die Weimarer Republik genauso abgelehnt haben, wie es die Deutschnationalen und die Nationalsozialisten getan haben. Und dann gab es die demokratischen Kräfte, nämlich die Sozialdemokraten, einen Teil der Zentrumspartei und ein paar wenige versprengte Liberale, und die waren zu schwach und zahlenmäßig zu wenig, um diese schwache Republik zu schützen. Aus diesen historischen Fakten habe ich einige nüchterne Einsichten gezogen.

Gut, das ist die Vergangenheit. Wie schaut es mit der Gegenwart aus?

Grass: Also, daß ich aus der SPD ausgetreten bin, heißt noch lange nicht, daß ich mich auch von meinen Überzeugungen verabschiedet habe. Ich bleibe, was ich die längste Zeit meines Lebens gewesen bin: ein demokratischer Sozialist. Für mich sind diese beiden Begriffe, Demokratie und Sozialismus, miteinander verbunden, sie bedingen einander. Eine Demokratie ohne soziale Rechte ist ein leeres Gebilde, allenfalls verwendbar für die oberen Schichten, die über die Mittel verfügen, von den demokratischen Grundrechten, von den Bürgerrechten Gebrauch zu machen. Einen sehr guten Rechtsanwalt kann sich nur ein gutbetuchter Mensch leisten. Der Satz "Vor dem Gesetz sind alle gleich" ist schon in unseren Ländern äußerst fragwürdig. Ich trete für eine Verbindung von Demokratie und sozialen Grundrechten ein, daran wird sich auch so bald nichts ändern.

Wie steht es mit dem Pazifimus? Was die deutschen Intellektuellen und Schriftsteller Ihrer Generation geeint hat, die Mitglieder der Gruppe 47, war nicht zuletzt eine gewisse pazifistische Grundeinstellung. Jetzt kann man beobachten – Stichwort Bosnieneinsatz der Bundeswehr – daß es in der SPD, aber auch unter den Grünen, eine grundsätzliche Diskussion über den Pazifismus gibt.

Grass: Sehen Sie, ich muß Ihnen da gleich widersprechen, weil die Grundthese Ihres kleinen Statements nicht ganz stimmt, auch was die Mitglieder der Gruppe 47 betrifft. Ich bezweifle, daß die alle Pazifisten waren. Zum Beispiel, was mich betrifft, könnte ich das nicht bejahen. Ich bin zwar nach wie vor der Meinung, daß Kriege keine anstehenden Probleme lösen, aber einen unbelehrbaren Agressor müssen Sie notfalls mit Gewalt stoppen. Hitler war ohne kriegerische Einwirkung nicht zu stoppen, das läßt sich an verschiedenen Beispielen belegen. Daß dann dieses Bündnis zwischen dem Stalinismus auf der einen Seite und dem amerikanisch-kapitalistischen System nur kurze Zeit gehalten und zu neuen Kriegen geführt hat, ist ein Anzeichen dafür, daß Kriege keine Probleme lösen. Die Probleme auf dem Balkan, um jetzt einen Sprung in die Gegenwart zu machen, kann man nicht mit Kriegen lösen. Aber wenn sich herausstellt, so wie es ja auf dem Balkan anfangs gewesen ist, daß das militärische Potential in erster Linie in Händen der Serben war, und daß die Serben sich auch nicht gescheut haben, dieses militärische Potential für ethnische Säuberungen einzusetzen, dann hätte sehr früh eine militärische Reaktion – punktuelle Einsätze gegen Waffenlager, gegen Flugplätze etwa – eine bestimmte abschreckende Wirkung erreicht. Das hat man nicht getan. Und dieses Aussparen kriegerischer Mittel ist nicht etwa aus einer pazifistischen Grundeinstellung heraus geschehen, sondern weil es in Bosnien kein Öl gibt.

Im Gegensatz zu Kuwait.

Grass: Ganz recht, die Probleme mit einem Diktator wie Saddam Hussein sind durch den Golfkrieg überhaupt nicht gelöst worden, der Mann ist nach wie vor an der Regierung. Und die Länder, für die der Westen eingetreten ist, Kuwait und Saudi Arabien, die sind, was ihre politischen Strukturen betrifft, weiß Gott keine Demokratien. Es ging also wirklich nur ums Öl! Da hatte man keinerlei Bedenken, sofort mit den äußersten militärischen Mitteln zuzuschlagen, während in Bosnien, wo es um begrenzte militärische Schläge gegangen wäre, gleich in der Anfangsphase das große Zögern und Zagen ausbrach und das wirtschaftliche Interesse nicht stark genug war. Also wie gesagt, noch einmal: Was mich betrifft bin ich nach wie vor der Meinung, daß Kriege, auch dort, wo sie notwendig sind, um einen Agressor zu stoppen, nicht in der Lage sind, die anstehenden Probleme zu lösen. Der gegen Nazi-Deutschland gewonnene Krieg hat den Faschismus nicht aus der Welt geschafft, nur den Agressor gestoppt.

Ist ja auch nicht zu verachten!

Grass: Natürlich nicht, es war ohne Zweifel notwendig.

Sind Sie für oder gegen Bosnieneinsätze der Bundeswehr?

Grass: Was das frühere Jugoslawien betrifft, ist meine Meinung ganz eindeutig. Ich bin strikt DAGEGEN, daß deutsche Truppen dorthin gehen, sie haben in diesem Teil der Welt nichts zu suchen, und zwar aus einem einfachen Grund: weil die Deutschen durch die Okkupation im Zweiten Weltkrieg einen Teil der jetzt wieder ausgebrochenen Probleme mitgeschaffen haben. Man muß generell feststellen, daß die Deutschen in Jugoslawien äußerst unglücklich agieren: Die einseitige Anerkennung Kroatiens, die Genscher zu verantworten hat, den ich immer für einen intelligenten Außenminister gehalten habe, diese einseitige Anerkennung ist ein Blödsinn ersten Ranges gewesen. Und auch nach dieser Anerkennung hätte man die diplomatischen Beziehungen zu Kroatien mehrfach wieder einfrieren müssen, denn Kroatien hat sich weiß Gott zu keiner Demokratie entwickelt.

Lassen Sie uns ein wenig über Ihre künstlerische Arbeit sprechen: Sie fahren als Künstler zweigleisig, sind Graphiker und Zeichner auf der einen Seite und Schriftsteller auf der anderen. Wie bringen Sie diese beiden Professionen zusammen?

Grass: Das sind fließende Übergänge. Schon bei der Niederschrift eines Romans oder einer Erzählung, eines Prosakomplexes, schon bei der handschriftlichen Niederschrift kommen Zeichnungen, gerufene wie ungerufene, hinein. Manchmal ist es eine Szene, die ich mir zeichnerisch verdeutliche, um sie genauer beschreiben zu können. Manchmal ist es ein zeichnerischer Reflex auf etwas, was schon auf dem Papier steht. Und dann erweitern sich diese anfangs doch sehr skizzenhaften Zeichnungen, werden zu großformatigen Kohlezeichnungen wie hier beim “Weiten Feld³, dann entstehen Lithographien, bei anderen Büchern sind Radierungen entstanden, und zum Schluß habe ich hier sogar einige Aquarelle in Arbeit gehabt. Das vollzieht sich bei mir eigentlich recht zwanglos und ist mir eine große Hilfe.

Wie ist es, wenn Sie gerade kein Buch in Arbeit haben?

Grass: Dann ist mir das Zeichnen erst recht willkommen. Nach dem Abschluß einer langjährigen Prosaschreibphase, wenn der Kopf leer ist, wenn alle Wörter verbraucht sind, entgehe ich durch meine graphische Arbeit der Gefahr, mit nichts im Kopf dennoch ein weiteres Buch zu schreiben. Wir kennen von den Buchmessen her diese sehr schön geschriebenen, inhaltslosen Bücher, die auf diese Art und Weise entstehen, und dem entgehe ich, wenn man so will, listig. Listig, indem ich zu meinen Stiften, zu meiner Radiernadel oder zur Lithokreide oder zu meinem jetzt mittlerweile entstaubten Aquarellkasten greife und anderen Disziplinen, die eigene Gesetze haben, nachgehe und mich dadurch entlaste.

Befassen Sie sich manchmal mit dem Tod?

Grass: In den letzten Jahren natürlich mehr. Ich kann sogar sagen, in den letzten Monaten mehr. Zum einen, weil ich jetzt mit 68 Jahren selbst einige Altersgebrechen körperlich verspüre, zum anderen, weil Generationsgenossen, kürzlich der Jazzmusiker Gerry Mulligan oder Heiner Müller, wegsterben, Löcher hinterlassen. Es wird in meiner Generation einsamer. Und da denkt man unwillkürlich auch ans eigene Sterben.

Befassen Sie sich mit religiösen Fragen?

Grass: Ja, ich befasse mich mit Religion, aber als nichtgläubiger Mensch, ich reagiere ästhetisch darauf. Ich bin ein erbitterter Gegner der katholischen Kirche, als Amtskirche und als Institution, aber ich werde zeitlebens von der Farbigkeit und von der legendenbildenden Kraft innerhalb der katholischen Kirche geprägt bleiben. Und das trifft auch auf andere Religionen zu. Generell kann ich sagen, daß mir Religionen mit möglichst vielen Göttern mehr liegen.

Wenn schon Religion, dann Hinduismus?

Grass: Ach wissen Sie, ich kann dem hinduistischen Kitsch und dem katholischen Kitsch durchaus etwas abgewinnen.

Okay, das ist die Perspektive von außen. Das ist: Günter Grass betrachtet die Welt der Religion. Wie schaut es innen aus?

Grass: Ich bin nicht gläubig, das sagte ich ja schon. Natürlich sehe ich, daß in der Bergpredigt eine starke moralische Kraft liegt, eine Forderung an den Menschen, wahrscheinlich eine Überforderung, ähnlich wie die marxistische Forderung an den Menschen eine den Menschen übersteigende ist.

Sie vertreten ein realistisches Menschenbild?

Grass: Ich bin in dieser Hinsicht ein Kant-Anhänger. Kant ist davon ausgegangen, daß der Mensch ein krummes Holz ist. Und wer versucht, dieses krumme Holz geradezubiegen, der überfordert, der zerbricht den Menschen. Also diese Einsicht Kants ist mir dann, obgleich sie nicht so farbig und nicht so schön schillernd ist wie die katholische Welt es sein kann, näher und überzeugender als all diese grauenhaften Versuche, das krumme Holz des Menschen geradezubiegen.

 

Erschienen in "Wespennest", Nr. 100, 1996.

DAS BUCH:
Günter Grass: EIN WEITES FELD
Roman, Verlag Steidl (1995), 781 Seiten, ISBN: 3882433663.



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