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Jurek Becker

"Ich kann meine Bücher nicht leiden"

JUREK BECKER über Selbstzweifel, den deutschen Anitsemitismus und Zensurversuche bei "Liebling Kreuzberg". Von Günter Kaindlstorfer.

Herr Becker, mit "Liebling Kreuzberg" haben Sie eine der erfolgreichsten Serien der deutschen Fernsehgeschichte geschrieben. Warum haben Sie damit aufgehört?

Becker: Weil ich keine Lust mehr hatte. Ich denke, 27 Folgen sind genug.

Stimmt es, daß Ihre Frau Sie gedrängt hat, mit der Arbeit fürs Fernsehen aufzuhören?

Becker: Nein, meine Frau hat mich gedrängt, gar nicht erst damit anzufangen.

Mit welchen Argumenten?

Becker: Sie meinte, fürs Fernsehen zu schreiben sei nicht mein Bier. Ich sollte mich um erheblichere Angelegenheiten kümmern. In diesem Punkt waren wir völlig verschiedener Meinung: Ich fand "Liebling Kreuzberg" nämlich eine äußerst erhebliche Angelegenheit. Ich hielt das nicht bloß für einen Spaß, den man sich eben mal so gönnt. Ich hab' das ziemlich wichtig genommen, anders als meine Frau.

Was unterscheidet das Schreiben von Drehbüchern vom "ernsthaftem Schreiben"?

Becker: Auf keinen Fall ist ein Unterschied der, daß ich das eine ernstnehme und das andere nicht. Mir sind beide Arten von Arbeit gleich wichtig. Ich habe das Drehbuchschreiben nicht auf die leichte Schulter genommen. Ein großer Unterschied ist jedenfalls der, daß ein Drehbuch eine Zulieferangelegenheit ist und kein Fertigfabrikat ist, kein Endprodukt. Wenn ich einen Roman schreibe, dann besetze ich mit meiner Persönlichkeit alle Rollen in diesem Roman: Ich bin der Kostümbildner, ich bin der Maskenbildner, ich bin der Regisseur, ich bin der Kameramann... Das heißt: Ich bestimme alle Details. Bei einem Drehbuch bin ich auf das Vermögen anderer angewiesen, so wie die auf mein Vermögen angewiesen sind. Filmemachen ist Teamwork. Natürlich versuche ich, die Stärken der Beteiligten zu nutzen und ihre Schwächen zu vermeiden.

Bei Manfred Krug zum Beispiel?

Becker: Ja, genau. Ich wußte ja, daß Manfred Krug die Rolle des Anwalts Liebling übernehmen wird. Wir kennen uns ja außerordentlich gut, wir sind ja engstens befreundet. Da habe ich mir Mühe gegeben, seine Stärken zu bedienen und ihm die Schwächen zu ersparen. In einem Roman gibt es das nicht. Das ist eine Art von Rücksichtnahme, die ich in einem Roman nicht zu nehmen brauche. Da muß ich nur auf meine Stärken und auf meine Schwächen achten.

Stimmt es, daß es Zensurversuche gegeben hat, von seiten des Fernsehens?

Becker: Ja, das stimmt. Deswegen wollte ich den Krempel nach der sechsten Folge auch hinschmeißen. Die Redaktion nahm auf unverschämte Weise Einfluß auf gewisse Details. Verstehen Sie, das sollte aus meiner Sicht kein billiger Unterhaltungsspaß werden. Und die haben Eingriffe vorgenommen, die ich aus heutiger Sicht als politische Zensur bezeichnen würde.

Welche Eingriffe waren das?

Becker: Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: In der ersten oder zweiten Folge heuert Anwalt Liebling einen Kollegen an, einen jungen Mann, dessen Vater schon als Rechtsanwalt gearbeitet hat. Liebling und der junge Kollege gehen in ein Geschäft für Anwaltsbedarf, sowas gibt's wirklich in Berlin, da kann man Roben kaufen, weiße Seidenschlipse, Jabots, all so'n Zeug. Also, auf dem Weg dorthin fällt Liebling ein, daß der Vater des jungen Kollegen schon Anwalt gewesen ist, und er sagt zu ihm: "Hören Sie mal, Ihr Vater ist doch schon Anwalt. Können Sie nicht seine Robe nehmen?" Und darauf sagt der Junge: "Na ja, da sind aber noch die Nadelstiche von dem abgetrennten Hakenkreuz drauf zu sehen."

Na und?

Becker: Ja, sehen Sie, das ist keine große Geschichte. Aber die Fernsehleute wollten diese Passage einfach streichen. Und als ich denen sagte: "Was fällt euch ein?", da haben Sie mir geantwortet: "Lieber Herr Becker, das ist 'ne Unterhaltungssendung! Wenn Sie Politik-Berichterstattung machen wollen, müssen Sie zum 'Heute-Journal' oder zu 'Panorama' gehen." Das fand ich derart unverschämt, daß ich mich geweigert habe, die Sendung fortzusetzen.

Aber Sie haben doch noch weitere 21 Folgen geschrieben?

Becker: Beim Fernsehen rennen alle hinter dem Fetisch Einschaltquote her, und weil die Serie so ein Renner war, wollten die unbedingt, daß ich weitermache. Na, da hab' ich natürlich Bedingungen gestellt! Und dazu gehörte, daß die Redaktion keinen Einfluß mehr auf das Drehbuch nehmen durfte.

Das heißt, ab der siebten Folge gab es keine Einflußnahme mehr?

Becker: Genau, ich konnte autonom arbeiten.

Es gab aber auch einen Eingriff wegen einer Szene, in der es um prügelnde Polizisten geht.

Becker: Das war noch in der ersten Staffel. Da haben die eine Passage gestrichen, in der jemand wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt vor Gericht stand, und es stellte sich während der Verhandlung heraus, daß nicht er Widerstand geleistet hat, sondern daß er von der Polizei verprügelt worden ist. Ein Vorgang, der damals in Berlin tausendfach in den Akten gestanden hat. Aber die Redakteure, die die erste Staffel gemacht haben, fühlten sich als verlängerter Arm der Berliner Fremdenverkehrswerbung, die wollten ein hübsches, friedliches, nettes Kreuzberg zeigen, wo die Nächte lang sind und wo's die interessanten Restaurants gibt. Und daran wollte ich mich nicht beteiligen. Das wäre mir zu läppisch gewesen. Ich wollte keinesfalls für eine dieser belämmerten Unterhaltungsserien verantwortlich sein, denen man ansieht, daß die Macher ihr Publikum für Idioten halten.

Es soll ja demnächst eine Fortsetzung geben: Ulrich Plenzdorf arbeitet an einer Staffel von neuen Drehbüchern. Schauplatz wird in Hinkunft nicht mehr Kreuzberg sein, sondern der Prenzlauer Berg im Osten der Stadt. Zufrieden mit Ihrem Nachfolger?

Becker: Ich habe Ulrich Plenzdorf selbst vorgeschlagen. Ich kann natürlich nicht vorhersagen, was für ein Gesicht das Ganze kriegen wird. Vielleicht wird es enttäuschend, vielleicht wird es großartig. Vielleicht wird es sogar so großartig, daß alle sagen: "Mensch, schade, daß der Jurek Becker das auch mal gemacht hat."

Ihr neuer Roman, "Amanda herzlos", ist von der Kritik zum Teil zustimmend, zum Teil mit Vorbehalten aufgenommen worden. Was hat Sie als, pardon, älterer Herr, daran gereizt, eine junge Frau zur Protagonistin zu machen?

Becker: Ich habe mir eines Tages die Frage gestellt, warum Frauen in meinen Büchern nicht die gleiche zentrale Rolle spielen wie in meinem Leben. Und dann habe ich gehandelt: Ich habe einen Frauenroman geschrieben, eine Herausforderung, das kann ich Ihnen sagen. Noch etwas anderes ist von Bedeutung: Meine Frau, eine Sprachwissenschaftlerin, hat mich auf die Bücher einer Forscherin aufmerksam gemacht, die man als Begründerin der feministischen Linguistik in Deutschland bezeichnen könnte. Ich spreche von Luise Pusch, sie lehrt in Konstanz, wenn ich nicht irre, und hat mehrere Untersuchungen geschrieben über das Thema "Deutsch als männlich dominierte Sprache". Frau Puschs Arbeiten haben mich sehr beeindruckt. Ich kann Ihnen das nicht vorrechnen, aber eines Tages habe ich gemerkt, daß mich ein Teil der Welt beschäftigt, der mir bis dahin relativ nebensächlich war.

Die Frauen?

Becker: Die Diskriminierung der Frauen, das ist ja nicht unbedingt dasselbe. Die Diskriminierung von Frauen hat auch mit Männern zu tun.

Weiß Gott.

Becker: Schön, daß Sie das auch so sehen. Um es polemisch zu formulieren: Ein Mord betrifft ja nicht nur den Ermordeten, er betrifft auch den Mörder.

Ein etwas überzogener Vergleich, scheint mir.

Becker: Sie haben recht, ja.

Amanda selbst kommt in Ihrem Buch nie zu Wort. Sie wird aus der Sicht dreier Männer beschrieben, sie bleibt im Grunde diffus, auch etwas rätselhaft. Mir kommt das ziemlich romantisierend vor.

Becker: Ich habe nicht den Eindruck, daß ich romantisiere, ehrlich gesagt. Ich halte mich für einen ganz und gar un-romantischen Menschen, ich bin ein echter Anti-Pathetiker.

Also, ich hatte das Gefühl, daß Sie Amanda verklären.

Becker: Ich glaube nicht, daß ich Amanda verkläre. Ich biete kein komplettes Bild von ihr, das ist richtig. Aber das hängt vielleicht damit zusammen, daß ich keine Bücher mag, die dem Leser alles mitteilen, die ihn über jeden Sachverhalt im einzelnen aufklären. Ich mag Bücher, die nach der Lektüre im Kopf weiterarbeiten. Die den Leser oder die Leserin geradezu nötigen, sich selbständig Gedanken zu machen. Solche Bücher schreibe ich am liebsten, weil ich sie auch am liebsten lese. Alles andere interessiert mich nicht.

Ein Schriftsteller schreibt immer, was er selbst gerne lesen würde.

Becker: Ich würde sagen: ja. Obwohl ich mir immer wieder die Frage stelle, ob ich meine Bücher selbst gerne lesen würde.

Und? Wie ist die Antwort?

Becker: Ich weiß es nicht.

Sie sind kein Fan Ihrer Bücher?

Becker: Nein, ich habe ein gestörtes Verhältnis zu ihnen.

Woody Allen hat einmal gesagt: "Ich sehe mir meine eigenen Filme nicht an, weil ich mich sonst ankotzen müßte." Geht es Ihnen auch so.

Becker: Ja, ganz genau so. Sobald ich ein Buch abgeschlossen habe, ist mein Verhältnis zu ihm grundsätzlich verdorben.

Woody Allen hält jeden einzelnen seiner Filme für mißlungen. Das Ergebnis, der fertige Film, so klagt er, sei immer schlechter als die Vorstellung, die er sich vor Beginn der Dreharbeiten von dem Film gemacht habe. Kennen Sie dieses Gefühl?

Becker: Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen?

Wenn's geht.

Becker: Meine Bücher ekeln mich an. Ich kann sie nicht mehr anschauen, nachdem sie einmal gedruckt sind. Ich habe vor der Drucklegung so lange an ihnen herumgedoktert und herumkorrigiert, daß ich sie nicht mehr sehen kann.

Korrigieren Sie viel?

Becker: "Viel" ist gar kein Ausdruck. Ich korrigiere so lange, so fanatisch an meinen Texten herum, bis ich jegliche Distanz zu ihnen verloren habe, bis ich nicht mehr weiß, ob es sich bei den Korrekturen überhaupt noch um Verbesserungen handelt. Im Prinzip könnte das Korrigieren endlos so weitergehen, zehn Jahre, zwanzig Jahre, ich käme nie an ein Ende. Sobald ich das Gefühl habe, mit den Korrekturen nicht mehr weiterzukommen, ist es Zeit, das Ding an den Verlag zu schicken.

Marcel Reich-Ranicki hat an "Amanda herzlos" kritisiert, daß Sie sich um eine Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gedrückt hätten. Er meinte, er sei von Ihrem Buch ein bißchen enttäuscht...

Becker: Was heißt "ein bißchen enttäuscht" – der Mann hat einen Tobsuchtsanfall gekriegt! Bei allem Respekt vor Reich-Ranicki: Ich halte seine Kritik für unziemlich, ich verstehe sie nicht, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Die Abrechnung mit der DDR-Vergangenheit findet heute in jeder Zeitung statt, die ich aufschlage, in jeder zweiten Fernsehsendung, die ich ankucke, in jedem dritten Buch, das ich lese. Warum verlangt Reich-Ranicki von mir, daß ich das tue, was alle anderen auch tun? Anders ausgedrückt: Warum will er ein Buch von mir, das er schon kennt? Ich begreife es nicht.

Gab es in der DDR so etwas wie Antisemitismus, ausgesprochen oder unausgesprochen?

Becker: Ehrlich gesagt, das Phänomen Antisemitismus ist viel deutlicher in mein Leben getreten, seit ich im Westen bin. Vielleicht war Anitsemitismus in der DDR ein derartig strikt mit Sanktionen belegtes Tabu, daß Gelüste dieser Art gar nicht erst hochkamen, daß sie nur hinter vorgehaltener Hand ausgelebt wurden. Ich weiß es nicht, ich kann es nur vermuten. Hier im Westen sind Äußerungen solcher Art, wie Sie wissen, nicht mit derart strikten Sanktionen belegt, also artikuliert sich das eben öfter.

Aber das spielt sich doch eher im Wirtshaus ab. In der Presse und in den Medien ist das doch weiterhin ein Tabu.

Becker: Ja, in der sogenannten kultivierten Welt. Aber glauben Sie doch nicht, daß diese beiden Welten keine Berührungspunkte miteinander haben. Es entsteht ja in einer Gesellschaft ein äußerst unguter Zustand, wenn die Schere zwischen "kultivierter" und "unkultivierter" Welt immer weiter auseinanderklafft. Ich weiß nicht, ob eine Welt dann als "kultivierte Welt" ihren Namen verdient, wenn sie sich hoch erhebt über den tatsächlichen Zustand einer Gesellschaft. Und die "kultivierte Welt" sollte, wenn in der Gesellschaft antisemitische, fremdenfeindliche, autoritäre Wünsche kursieren, sich nicht davon abwenden, sondern Bezug darauf nehmen, welchen auch immer.

Wie reagieren Sie als Intellektueller auf brennende Asylantenheime in Rostock oder Hoyerswerda?

Becker: Ich glaube, daß uns in dieser Situation bewußt wird, daß intellektuelle Meinungsäußerungen eigentlich ohne Belang sind. Ich kann Appelle schreiben, ich kann auf Demonstrationen gehen, auf denen ich lauter Gleichgesinnte treffe, auf Menschen, die Ausländerfeindlichkeit verurteilen, zu denen spreche ich dann, die klatschen Beifall, aber das ist ein sich geschlossener Zirkel. Die verschiedenen Milieus haben zu wenig Berührung, zu wenig Kommunikation miteinander... In gewisser Weise kann ich die Skinheads in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, in Thüringen sogar verstehen.

Wie das?

Becker: Ich überlege: Als ich ein junger Mann war, achtzehn oder neunzehn Jahre alt, da habe ich in einer Welt gelebt, in der es außer Zweifel stand, daß die Zukunft was Tolles ist, was Großartiges. Da konnte zwar hin und wieder ein Ärger passieren, aber dieser Ärger konnte nichts an meiner prinzipiellen Zuversicht ändern. Und jetzt kucke ich mir so die Perspektiven der jungen Leute an.

In Ostdeutschland?

Becker: Nein, nicht nur in Ostdeutschland. Da ist es vielleicht ausgeprägter, aber das gilt auch für den Westen. Ich empfinde durchaus so etwas wie Mitleid. Die jungen Leute haben das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, überflüssig zu sein, die sehen die Zukunft wie eine schwarze Wand vor sich, die leben in einer Art Endzeit, das ist ihr Gefühl. Und dieses Gefühl, in einer Art Endzeit zu leben, macht auch glauben, es komme nicht so sehr auf kultiviertes Verhalten an. Man kann ruhig die Sau rauslassen. Nur: Das nachzuempfinden, und das erklären zu können, heißt nicht, es zu tolerieren, es hinzunehmen und zu sagen, naja, so ist es eben. Das scheint mir im Moment allerdings die Regierung zu tun. Wir haben derzeit eine Regierung, die, um sich ein gewisses Wählerpotential zu erhalten, ein erstaunliches Maß an Nachsicht und Verständnis aufbringt für die Skinheads und die anderen Gewalttäter ­ eine Toleranz, die man vor fünfzehn Jahren gegenüber der RAF so ganz und gar nicht an den Tag gelegt hat.

Kann man das gegeneinander aufrechnen?

Becker: Na ja, damals zeigte die Regierung eine ungeheure Entschlossenheit, die sie heute nicht mehr zeigt. Ich glaube, daß die Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens heute von rechts kommt, und ich glaube, daß sie größer ist als damals.

Sie haben im letzten Jahr als Juror beim Bachmann-Wettlesen mitgewirkt. Wie hat es Ihnen gefallen?

Becker: Es war eine interessante Erfahrung.

Werden Sie wiederkommen?

Becker: Nein.

Warum nicht?

Becker: So gut hat's mir auch wieder nicht gefallen.

DAS BUCH:
Jurek Becker: AMANDA HERZLOS
Roman, Suhrkamp Verlag (1992), 384 Seiten, ISBN: 3518404741.



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